Sinnsuche im Schützengraben

Zwei amerikanische Ex-Soldaten gehen in die Ukraine. Sie sehnen sich nach einem Kriegserlebnis

  • Paul Gäbler, Kiew
  • Lesedauer: 9 Min.
Donny (links) und Aftermath vertreiben sich die Zeit im Park. Bald darauf trennen sich ihre Wege wieder. Typisch Krieg, meint Donny. Da verliere man sich schnell aus den Augen.
Donny (links) und Aftermath vertreiben sich die Zeit im Park. Bald darauf trennen sich ihre Wege wieder. Typisch Krieg, meint Donny. Da verliere man sich schnell aus den Augen.

Es ist halb zwölf Uhr mittags, als sich die Sirene zum ersten Mal meldet. Luftalarm. Die App, die vor möglichen russischen Raketenangriffen warnt, schickt eine Benachrichtigung: »Everyone to the shelter!« Das Stimmengewirr im Café des Hostels ebbt für wenige Sekunden ab, dann geht alles seinen gewohnten Gang. Niemand scheint sich für die drohende Gefahr zu interessieren. Per E-Mail hatte das Management vor der Anreise mitgeteilt, dass man den Gästen empfehle, bei einem Bombenalarm gemeinsam im Keller auszuharren. Viel Schutz bietet der zwar nicht, bei einem direkten Treffer würde es vermutlich auch dort Tote geben.

Doch die Leute scheinen sich sicher zu fühlen. Menschen gewöhnen sich an so vieles – auch an die permanente Bedrohung aus der Luft. Seit Kriegsbeginn, so das Management, sei das Hostel noch keinen Tag geschlossen gewesen, die Auslastung stabil. Wer wohnt in Kiewer Hostels? Gibt es wirklich Leute, die Urlaub im Krieg machen?

An der Rezeption steht ein breitschultriger Amerikaner, der sich als Donny vorstellt. Seine langen Haare trägt er zu einem dünnen Pferdeschwanz gebunden, die Seiten sind kurz rasiert, und der hünenhafte Körper steckt in einer ausgebeulten Soldatenuniform. Er heiße in Wirklichkeit anders, erzählt er. Alles Taktik, um den Feind zu verwirren. »Die Russen denken, ich heiße Noah.« Mehr biografische Details möchte er in diesem Text nicht über sich lesen – aus Sorge, die Russen könnten diese gegen ihn verwenden. Ob sich der russische Geheimdienst wirklich für ihn interessiert? Das scheint doch eher unwahrscheinlich. Aber Donny nimmt die Sache hier sehr ernst.

Er würde für das ukrainische Militär arbeiten, erzählt er. Vor einem Jahr sei er in die Ukraine gekommen. Nur wenige Wochen nach dem russischen Überfall habe er sein Leben in den USA aufgegeben, alles, auch seine Kinder habe er zurückgelassen. Er wolle helfen – am liebsten an vorderster Front. Doch das geht nicht: Donny humpelt. Also versucht er, Menschen, die so ticken wie er, an die entsprechenden Stellen zu vermitteln.

Vor Ausbruch des Krieges war die Ukraine bekannt für »Dark Tourism«, also Reisen in gefährliche Gebiete. Hartgesottene fuhren mit dem Jeep ins Sperrgebiet nach Tschernobyl, um abends in den Techno-Clubs der Stadt zu feiern. Die Hauptstadt lockte junge Menschen aus aller Welt mit günstigen Preisen und einer gerade entstehenden Subkultur. Unter Backpackern galt sie lange als Geheimtipp. Diese Zeiten sind vorbei, zumindest vorerst. Stattdessen ist der Tourismus noch düsterer geworden, der Krieg ist für einige Menschen eine große Attraktion, von der sie sich magisch angezogen fühlen.

»Hier, probier die mal an«, sagt Donny und reicht eine Militärjacke weiter. Der Empfänger ist ein untersetzter Mann, der auf den Spitznamen Aftermath hört und laut eigener Aussage 15 Jahre in der US-Army gedient hat. Den Namen, der übersetzt Nachwirkung heißt, habe er nach einem Gefecht in Afghanistan verpasst bekommen, erzählt er. Über die Bedeutung verrät er nur eines: »Unsere Gegner werden sich noch länger an diesen Einsatz erinnern.«

Er zieht die Jacke über, sie passt wie angegossen. Nächste Woche gehe es für ihn nach Charkiw. Zwei Wochen lang werde er Hilfsgüter mit einem Truck durch die Gegend fahren. Geld gebe es dafür nicht, er bekomme aber eine Pauschale für die Anfahrt und das Essen. »Wenn ich den billigeren Bus buche, bleibt sogar noch ein bisschen was übrig.« Seinen Aufenthalt finanziert er sich durch sein weniges Erspartes, sagt Aftermath. Wenn er nichts zu tun hat (und das kommt häufig vor), sitzt er in der Lobby des Hostels herum und starrt auf sein Handy, genau wie die anderen Gestrandeten.

Denn Menschen wie Aftermath und Donny gibt es viele in Kiew. Laut ukrainischen Angaben sollen sich bis zu 20 000 Menschen aus dem Ausland in die Ukraine aufgemacht haben – darunter viele, die man »in den USA nicht mal in die Nähe eines Schlachtfeldes lassen würde«, wie die »New York Times« Ende März berichtete. Die ukrainischen Behörden hätten nicht ausreichend Zeit für einen seriösen Check ihres Hintergrunds. Und so versammeln sich neben teils erfahrenen Ex-Marines auch Betrüger und Angeber in den Reihen der Legionäre. Insbesondere der Fall James Vasquez machte in den USA die Runde, der nicht nur seine militärische Laufbahn vollständig erfand, sondern auch noch die ukrainischen Truppen mit Live-Postings vom Schlachtfeld behinderte.

Um dem vorzubeugen, teilt man die ausländischen Freiwilligen inzwischen bevorzugt für Helferjobs ein. Doch neben abenteuerlustigen US-Amerikanern mit dezenter Todessehnsucht gibt es noch einen anderen Schlag, der sich hier bevorzugt niederlässt: Menschen, die versuchen, im Chaos des Krieges ein Geschäftsmodell zu etablieren.

Wie ein Schamane sieht Niall wahrlich nicht aus. Eher wie ein ganz gewöhnlicher Mittfünfziger in grauem Wollpullover, den ein leicht modriger Geruch umweht. Er sei Heiler, erklärt er beim Frühstück mit irischem Zungenschlag, und wolle hier Traumata und Schmerzen lindern. Also schlägt er vor, seine Künste in einem nahe gelegenen Park an ein paar Freiwilligen zu demonstrieren.

So kommt es, dass zwei stark angetrunkene junge Männer neben Niall auf einer Parkbank Platz nehmen und die Augen schließen. Einer hat ein Veilchen von einer Prügelei aus der vergangenen Nacht, der andere klagt über wiederkehrende Rückenschmerzen. Damit kann Niall arbeiten. Er leite jetzt seine Energie auf sie beide, erklärt der Schamane und bittet seine Probanden zu schweigen. Beide sind entweder zu betrunken oder zu höflich, um seine Dienste abzulehnen und machen artig mit. So sitzen sie alle schweigend mehrere Minuten nebeneinander.

Ein paar Bänke weiter begutachten Donny und Aftermath die Szene und sprechen übers Sterben. »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagt Aftermath. »Aber wenn ich sterbe, dann soll das einen Sinn haben.« In Arizona, seiner Heimat, halte ihn nichts mehr. Die vielen Jahre als Soldat im Ausland hätten ihn entwurzelt. Er habe es eine Zeit mit einem Job als Security-Mitarbeiter versucht, das aber nicht lange ausgehalten. Irgendwann, so hofft er, wird er nicht nur Lastwagen durch die Gegend fahren, sondern auch wieder Dienst an der Waffe tun. »Wenn ich im Kampf fallen sollte, dann komme ich nach Walhalla.« Donny nickt. »Ich kann diese Leute nicht ausstehen, die immer nur von der Freiheit reden, aber nicht bereit sind, tatsächlich etwas dafür zu riskieren.« In die USA möchte er nicht mehr zurück.

Dass Soldaten vor allem nach Kampfeinsätzen Schwierigkeiten haben, wieder im Alltag anzukommen, ist ein bekanntes Phänomen. Posttraumatische Belastungsstörungen werden seit Jahrhunderten beobachtet, sie hießen schon »Old sergeant’s syndrome«, »Post Vietnam syndrome« oder auch abwertend »Kriegsneurose« – eine Bezeichnung, die sich besonders im Ersten Weltkrieg etablierte. Bis heute sind die von Soldaten erlittenen Kriegstraumata in den USA weitgehend ein Tabuthema.

Vom Soldaten, der in Afghanistan kämpft und Todesangst aussteht, zum Security-Mitarbeiter, der Obdachlose vor Geschäften vom Bürgersteig vertreibt – man kann sich vorstellen, wie sinnlos Aftermath das vorgekommen sein muss. So gesehen ist es nur logisch, dass er dahin zurückgegangen ist, wo für ihn alles Sinn ergibt: in ein Kriegsgebiet. Statt der tausend Graustufen des Alltags gibt es dort ein klares Schwarz-Weiß. Hier kämpft Gut gegen Böse, und Aftermath sieht sich auf der richtigen Seite. Auch für Donny, den sein Leben in den USA anödete, bietet sich hier die einmalige Gelegenheit, als Held an etwas Großem teilzuhaben: an einem Sieg über den Erzfeind Russland.

Der Schamane ist fertig mit seiner Arbeit. Die Schmerzen seien wirklich etwas besser geworden, sagen die ukrainischen Jungs und lächeln höflich. Zumindest das lädierte Auge scheint noch genauso blau wie zuvor. Beide wollen schon gehen, als Niall noch versucht, ihnen seine Nummer aufzuschwatzen. Um ihre Gebrechen dauerhaft loszuwerden, müsse dieser Vorgang regelmäßig wiederholt werden, das ginge auch per Whatsapp. So direkt sagt er es nicht, aber vermutlich will er dann auch Geld für seine Dienste haben. Niall ist in Fahrt und bietet direkt auch noch Donny an, sich um dessen Bein zu kümmern. »Ich hab die ganze Zeit so Zuckungen in meinem Schwanz – kannst du das auch heilen?«, fragt der barsch zurück.

Aftermath hat sich unterdessen zu den Jungs rübergesetzt und erklärt ihnen in gebrochenem Ukrainisch, warum er hier sei. Sofort bieten sie ihm etwas zu trinken an, mischen Whisky mit Cola und legen ihm kameradschaftlich den Arm um die Schulter. Der sonst so stille und zurückhaltende Aftermath beginnt zu lachen. Je mehr er trinkt, desto lockerer wird auch sein Ukrainisch. »Brat!«, ruft einer der Jungs immer wieder und schenkt dem amerikanischen Bruder im Geiste noch einen ein. »Du gehörst zu uns!«

Donny hält sich vornehm zurück. »Wenn ich Whisky trinke, werde ich ein anderer Mensch. Kein guter«, erklärt er und zündet sich stattdessen eine Pfeife an. Auch Niall, der irische Wunderheiler, ist nüchtern geblieben. Er verabschiedet sich überschwänglich. Morgen gehe es für ihn zurück in die Heimat, aber er werde bestimmt wiederkommen. Hier gebe es viel zu tun für ihn.

Es ist Abend geworden, die Laternen hüllen den Park in dämmriges Licht. Aftermath und seine neu gewonnenen Brüder haben inzwischen einen beachtlichen Teil der Whiskyflasche geleert und sind drauf und dran weiterzuziehen. »Kommt ihr mit?«, fragt Aftermath noch. Dann steht er mit wackeligen Beinen von der Bank auf, legt den Arm um seine Kameraden und verschwindet im Dunkel der Kiewer Nacht. Aus der Ferne hört man sie rufen: »Slava Ukraini!«

Zwei Monate später. Der Sommer hat Einzug gehalten, und die Kiewer strömen zu den Uferläufen des Dnepr, um sich abzukühlen. Dass hier Krieg herrschen soll, erscheint anhand dieser Bilder kaum vorstellbar.

Donny bekommt davon aber nicht mehr viel mit, er ist längst weitergezogen. Die ukrainische Gegenoffensive ist angelaufen, im Osten des Landes werden die Kämpfe immer heftiger, schreibt er per Messenger. Gerade sei er in Kramatorsk mit seiner neuen internationalen Einheit stationiert, bis zur Frontlinie sei es nur eine knappe halbe Stunde. Die Kämpfe seien heftiger geworden in den vergangenen Monaten, schreibt er. Vom Sieg der Ukraine ist er weiterhin überzeugt. »Die Moral der Russen ist für’n Arsch! Die wissen überhaupt gar nicht, wofür sie hier kämpfen.«

Und Aftermath? Von dem hat er seit ihrem gemeinsamen Besäufnis im Park nichts mehr gehört. Vielleicht ist er noch in Charkiw, vielleicht weitergezogen – oder sogar tot? Wer weiß das schon: »Im Krieg verliert man schnell die Übersicht.«

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