»20 000 Arten von Bienen«: Namen sind Schall und Rauch

Estibaliz Urresola Solagurens Film »20 000 Arten von Bienen« ist eine berührende Coming-of-Age Geschichte zum Thema Geschlechtsidentität

Lucia (Sofía Otero) auf der Suche nach jemandem, der sie versteht – Mutter Ane muss das erst noch lernen.
Lucia (Sofía Otero) auf der Suche nach jemandem, der sie versteht – Mutter Ane muss das erst noch lernen.

Bauchschmerzen sind in der Kinderwelt ein Zufluchtsort. In dem Buch »Der kleine Bauchweh« von Corinna Leibig zum Beispiel geht ebenjener kleine Bauchweh auf die Suche nach dem Grund für seine Schmerzen. Die Ursache ist keine körperliche, das ist schnell klar. Der Grund, und das findet der kleine Bauchweh mit der Hilfe eines erwachsenen Bauchwehs heraus, ist oft eine seelische Kränkung.

Bauchschmerzen sind auch eine Vermeidungstaktik. Nachfragen über Sorgen und Ängste kann man damit umgehen. So ist es auch bei der Hauptfigur in Estibaliz Urresola Solagurens Langspielfilmdebüt »20 000 Arten von Bienen«. Das achtjährige Kind hat immer dann Bauchschmerzen, wenn es gezwungen wird, sich zu offenbaren. Wenn man es dazu drängt, sich zu entscheiden, was es sein will: Junge oder Mädchen. Es bereitet ihm Schmerzen, wenn es ins Schwimmbad soll, wenn es sich vor anderen präsentieren muss, und zwar als das, was ihm die Gesellschaft vorgeschrieben hat, zu sein: ein Junge.

Genauso wie die Erwachsenenwelt scheinbar auseinanderzubrechen droht, wenn man Menschen nicht in die binären Geschlechterkategorien einteilen kann, muss auch der Mensch selbst mit seinem Namen in dieses System passen. Und so ist Aitor, der baskische Name ausgerechnet für »Herr« oder »Vater«, ein Deadname für die Hauptfigur des Films. Das Kind (und weil der ganze Film eigentlich eine Reise mit dem Ziel ist, zu sich zu finden, fällt es auch schwer, an dieser Stelle schon »das Mädchen« zu schreiben) hadert sehr mit dieser Zuschreibung und stößt damit vor allem Eltern und Großeltern in ihre eigene Identitätskrise.

Der Vater Gorka (Martxelo Rubio) ist meistens abwesend, beharrt aber genau deshalb, weil er eben sein Kind von allen am wenigsten kennt, auf dem Jungennamen. Die liebevolle, aber überforderte Mutter Ane (Patricia López Arnaiz) versucht zu kapieren, was ihr Kind bewegt, findet aber wegen ihrer eigenen Probleme einfach keine Zeit, es ernsthaft anzugehen. Ihre Entwicklung, in der sie lernen will, wirklich zu verstehen, begleitet der Film auf berührende Art.

»20 000 Arten von Bienen« ist nicht ausschließlich ein Porträt eines trans Kindes, sondern eine baskische Familien- oder noch mehr eine Frauengeschichte, die Solaguren in fein beobachteten Einzelheiten erzählt. Die Regisseurin verwendet dafür eine einfache, aber wirkungsvolle Bienenmetapher. Zunächst erscheint der Bienenstaat als ein wirres Konglomerat aus Individuen, ist aber eigentlich als Ganzes ein Organismus, der perfekt funktioniert. Ausgerechnet bei den Bienen fühlt sich das Kind dann auch am wohlsten, weil sie nichts von ihm wollen; kein Bekenntnis, kein eingeübtes Rollenspiel.

Seit Generationen züchtet die Familie Bienen, und die Großtante Lourdes (Ane Gabarain) weiß alles über sie. Das Kind, das sich erst noch den Namen Cocó gibt, damit aber auch unzufrieden ist, weil er sich nicht echt anfühlt, findet in Lourdes (der Name kann kein Zufall sein, weil die Tante für das Kind zu einer Art Pilgerstätte wird) dann auch die einzige Person, die nicht sofort in Abwehrreflexe verfällt. Lourdes hört zu, benutzt selbstverständlich weibliche Pronomen und macht der Mutter Ane bewusst, was sie verliert, wenn sie sich nicht darum bemüht, ihrem Kind näherzukommen.

Im Laufe des Films wird deutlich, wie komplex Familie funktioniert – eben wie ein Bienenstaat. Jeder ist in seiner Rolle gefangen, und aus dieser auszubrechen, bringt das ganze Gebilde zum Schwanken. Oma Lita (Itziar Lazkano) vertritt das klassische Rollenbild, wie es Patriarchat und Kirche über Jahrtausende manifestiert haben. Bei der ersten Begegnung mit ihrem Enkelkind stellt sie fest, dass die Haare zu lang sind: »Wir verpassen ihm eine Jungsfrisur.«

Auch Mutter Ane ist kein echter Halt für das Kind, schwankt sie doch sehr lange zwischen Verständnis und Trotz hin und her, wenn sie einerseits kontert, dass es »keine Jungs- oder Mädchensachen« gibt und sich vor Lita rechtfertigen muss, dass ihr Kind eben nicht »verwirrt« sei, weil sie es angeblich zu lapidar erzieht. Andererseits will Ane aber auch nicht wahrhaben, dass ihr Kind todunglücklich mit sich und der Welt ist. »Er heißt Aitor«, sagt sie trotzig in einer Szene im Schwimmbad, als ein Mädchen ihr Kind Cocó nennt – ein Name, der doch auch nur einen Zwischenzustand beschreibt, weil die Akzeptanz dessen, was ist, erst das Ende dieser Geschichte ist.

Dauerhaft präsent ist die Ambivalenz der Mutter, die Abschied nehmen muss von ihrem Kind, das es so nie gab, und die gleichzeitig immer mehr begreift, dass ihr Kind Hilfe und vor allem Halt sucht, aber nicht findet.

Neben der Familiengeschichte gibt Solaguren der Hauptfigur viel Platz, um ihre Unsicherheit und das Herantasten an die Wahrheit deutlich zu machen. So legt sich das Kind in einer Szene aus Holz geschnitzte Engelsflügel um. Eine fast beiläufige Sequenz, die nur durch die feinfühlige Kamera (Gina Ferrer García) überhaupt Bedeutung bekommt. Engel, bei denen sich selbst die Religionen nicht ganz sicher sind, ob sie nun männlich oder weiblich sind, und dazu deshalb am besten gar nichts sagen, außer dass sie nicht verheiratet sind.

Die Szenen, in denen die Kinder unter sich sind, haben hingegen eine sehr eindeutige Botschaft. Sie brauchen viel weniger Zeit, um das Wesentliche zu erkennen, und ihr Miteinander ist geprägt von einem Verständnis, das sich aus Neugier und Unbefangenheit speist. So ist der Bruder Eneko (Unax Hayden) der Erste, der bei einer Suchaktion im Wald den Namen seiner Schwester ruft, einen, den sie erst gen Ende des Films findet: Lucia. Sie nennt sich nach der heiligen Lucia von Syrakus, die, wie Oma Lita erzählt, bestraft wurde, weil sie für ihre Überzeugungen eintrat.

Die berührendste Szene aber findet an einem kleinen See statt, in dem die Dorfgemeinde eine verloren gegangene Holzfigur des heiligen Johannes vermutet. Lucia (irgendwann traut sie sich selbstbewusst, diesen Namen zu sagen) steht mit einer Freundin am Ufer und entdeckt die Figur. Die beiden wollen sie aus dem Wasser holen, ziehen aber vorher ihre Badesachen an. Als die Freundin ihre Bikinihose zu groß findet, fragt Lucia, ob sie tauschen wollen. Nachdem die zwei sich untenrum verlegen ausgecheckt haben, geht das Mädchen völlig selbstverständlich in Lucias Badeshorts und Lucia mit einem blassrosa Rüschenhöschen ins Wasser.

»20 000 Arten von Bienen« ist alles, aber kein plakatives Manifest. Solaguren sagt, dass sie sich einen solchen Film nicht angemaßt hätte, da sie selbst nicht aus der queeren Community stammt. Aber sie hat zahlreiche Interviews mit Familien und trans Kindern geführt, die dem Film eine angenehme, nie parolenhafte Glaubwürdigkeit verleihen. Die zehnjährige Hauptdarstellerin Sofía Otero gewann für ihre Darstellung auf der Berlinale den Silbernen Bären. Ihre mal hilflos nach Orientierung suchende, dann immer selbstbewusster werdende hochsensible Interpretation der Lucia geht einem sehr nah. Und das macht dann doch wieder ein Statement aus dem Film: Namen sind nur Schall und Rauch.

»20 000 Arten von Bienen«, Spanien 2023. Regie und Drehbuch: Estibaliz Urresola Solaguren. Mit: Sofía Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain. 125 Min. Start: 29.6.

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