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Leibniz-Sozietät: Trotz, Theodizee, Theoria cum praxi
Heute begeht die Leibniz-Sozietät ihren 30. Gründungstag, schaut stolz zurück und zuversichtlich nach vorn
»Trotz alledem!«, ruft Hermann Klenner aus, gleich Karl Liebknecht, der mit diesen trotzigen Worten einst einen Artikel überschrieb, der an jenem Tag in der »Roten Fahne« erschien, da er in Berlin von konterrevolutionären Freikorpsoffizieren ermordet wurde. Was veranlasst den Juristen, eher bekannt für bedächtige, abgewogene und nachdenkliche Worte, zu dieser trutzigen Bekundung auf einer Veranstaltung von Akademikern unlängst in Berlin? Er spricht als Zeitzeuge von Wenden und Umbrüchen, die auch in seine Biografie stark eingegriffen haben.
Noch in den letzten Kriegswochen in die Wehrmachtsuniform gepresst, konnte sich der anfänglich von der Nazi-Ideologie wie so viele seines Alters verführte Junge aus Schlesien in sowjetischer Kriegsgefangenenschaft von geistigem Unrat befreien. Er studierte Rechts- und Staatswissenschaften an der Martin-Luther Universität Halle, um schließlich an der Humboldt-Universität zu Berlin zu promovieren und sich dort auch zu habilitieren. Obwohl der frisch gekürte Juraprofessor auf der berühmt-berüchtigten staats- und rechtswissenschaftlichen Babelsberger Konferenz der SED im Februar 1958 vom Partei- und Staatschef Walter Ulbricht des Revisionismus beschuldigt und daraufhin auch ganzseitig im Zentralorgan »Neues «Deutschland» denunziert wurde, wählte ihn das Präsidium der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) kühn zum Leiter einer neuen Arbeitsstelle für Rechtswissenschaft. Für Klenner als Wiedergutmachung «trotz alledem» empfunden.
Ein Dezennium später wird er vom Generalstaatsanwalt der DDR auf einer Plenartagung des ZK als «rückfälliger Revisionist» angeprangert, sekundiert durch «zustimmende Zwischenrufe» von Ulbricht und Margot Honecker. Was war geschehen? In einem Artikel, der nicht zur Veröffentlichung kam, hatte Klenner sich das Recht herausgenommen, das Recht im Sozialismus nicht nur als ein Mittel der Macht, sondern auch als ein die Rechte der Bürger garantierendes Maß der Macht zu wünschen.
Klenners wissenschaftlicher Reputation hat die zweifache Abkanzelung, verbunden jeweils mit dem Verlust der Professur, nicht geschadet. Er wurde, wiederum ein Dezennium später, Mitglied der Gelehrtensozietät der AdW. Trotz alledem. Opportunität oder Opportunismus kann man diesem Mann – ein exzellenter Kenner der Werke von Leibniz, Bacon, Hegel und Radbruch und einer der wenigen weltweit, die Ludwig Wittgenstein («Tractatus Logico-Philosophicus») wirklich verstehen – nicht vorwerfen. Gleichwohl er sich selbst nicht frei von Fehlern oder Fehleinschätzungen nennen würde.
Im Februar 1990 hatte Klenner den Vorsitz des Runden Tisches an der DDR-Wissenschaftsakademie übernommen, die seiner Ansicht nach «nicht nur reformbedürftig, sondern auch reformfähig» war. Es ging um die «Beseitigung von Restriktionen und Demokratisierung», sagt er. Der gute Wille, die Bereitschaft der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, der Mitglieder der AdW war groß. Doch von den alsbaldigen neuen Machthabern im Land nicht gewollt.
Im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist von einer «Einpassung von Wissenschaft und Forschung» die Rede. Und dass mit dem Beitritt der DDR zur BRD die Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften der DDR von deren Forschungsinstituten getrennt wird; die Arbeitsverhältnisse der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sollten zum 31. Dezember 1991 enden, hernach in Evaluierungskommissionen über deren eventuelle Übernahme an diverse bundesdeutsche Institute entschieden werden. Das Ergebnis ist bekannt, die wenigsten DDR-Forscher kamen wieder in Arbeit und Lohn.
Doch auch der Gelehrtensozietät der abgewickelten Wissenschaftsakademie sollte der Garaus gemacht werden. Mit dem Datum vom 7. Juli 1992 wurde deren 286 inländischen und 124 ausländischen Mitgliedern vom Berliner Wissenschaftssenator mitgeteilt, dass ihre Mitgliedschaft erloschen sei. «Damit beging der Senator eine eindeutige Rechtsverletzung», konstatiert der Jurist Klenner. Und ergänzt: «Sie wurde nie geahndet.»
Die Wissenschaftler dachten nicht daran, sich dem Diktat der Politik zu beugen. Nicht mehr und nie wieder. Da ihnen ihr bisheriges Domizil am Berliner Gendarmenmarkt genommen wurde, sie dort de facto Hausverbot hatten, trafen sie sich fortan regelmäßig im «Club Spittelkolonaden» an der Leipziger Straße. Sie waren nicht nur gewillt, wissenschaftlich weiter produktiv zu sein, sondern auch als Gemeinschaft zusammenzuhalten.
Am 28. März 1993 konstituierte sich als eine Neugründung die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), die das prachtvolle Gebäude der AdW im Herzen der alsbaldigen deutschen Hauptstadt zugesprochen bekam, nebst deren Vermögen, Archiv, Bibliothek und Sammlungen – mit einer dreisten Selbstverständlichkeit, die noch heute verblüfft, aber seinerzeit landauf, landab in Ostdeutschland gang und gäbe war. Hier und dort regte sich gegen solch koloniales Gebaren Widerstand. Auch in Berlin. 49 wackere Gelehrte der staats- und landesoffiziell gemeuchelten AdW, die sich als Erbin der anno domini 1700 von Leibniz aus der Taufe gehobenen Societät der Wissenschaften verstanden hatte, schritten zur Tat und riefen kurz darauf, am 15. April, die Leibniz-Sozietät als eingetragenen Verein ins Leben.
«Wir sind kein Traditionsverein der Akademie der Wissenschaften der DDR. Unser Traditionsverständnis geht viel weiter zurück. Es gehört zu unserem Selbstverständnis, dass wir uns auf die Kontinuität seit der Gründung der Gelehrtensozietät durch Gottfried Wilhelm Leibniz berufen können», heißt es in der zum 30. Jahrestag erscheinenden Chronik der Sozietät, in der zugleich stolz und selbstbewusst die (nunmehrige unfreiwillige) «Freiheit von politischen Abhängigkeiten, von Patronaten und Zwängen» gefeiert wird.
Vor zwei Wochen beging die BBAW ihren 30. Jahrestag (siehe «nd.DieWoche», 17./18.6.), an diesem Donnerstag tut es ihr die Leibniz-Sozietät gleich, in der Archenhold-Sternwarte in Alt-Treptow. Den Festvortrag hält Christa Luft, Jg. 1938, ehemalige Rektorin der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst und 1989/90 Wirtschaftsministerin im Kabinett von Ministerpräsident Hans Modrow. Die Professorin, selbstredend Mitglied der Sozietät, wird über «Zeitenwende und Epochenumbruch» reden.
Für sie ist des Kanzlers «Wummswort» äußerst problematisch. Zum einen, weil Olaf Scholz zeitgleich ein auf Pump finanziertes «Sondervermögen» von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr einstellen und im Grundgesetz verankern ließ. «Damit können spätere Regierungen, falls gewollt, es nur mit 60 Prozent Parlamentszustimmung aushebeln. Zudem sei dieses »eine schwere Hypothek für kommende Generationen, die schon mit von ihnen nicht verursachten Umweltschäden eine Last zu tragen haben.« Das »Sondervermögen«, das sie fatal an die von der SPD im Reichstag zu Liebknechts Zeiten bewilligten Kriegskredite erinnert, sieht Christa Luft auch als Beleg für eine gefährliche Militarisierung von Außen- und Außenhandelspolitik. Lebenswichtige Güter, Währungen und Finanzen werden als »Waffen« eingesetzt.
Natürlich wird am aktuellen Leibniz-Tag auch Bilanz gezogen und in die Zukunft geschaut. »nd« sprach vorab mit einigen Mitgliedern.
Gerda Haßler, Jg. 1953, Präsidentin der Leibniz-Sozietät seit 2021, betont als das große Verdienst der Gelehrtengesellschaft, im Zuge der deutschen Vereinigung aus dem institutionellen Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzten Forschern die Möglichkeit eröffnet zu haben, ihre Arbeiten fortzuführen. »Das war wirklich eine große Leistung.« Die Romanistin hatte sich selbst seinerzeit neu orientieren müssen, wäre fast ins Ausland gegangen, nach Portugal, wie sie auf nd-Nachfrage mitteilt – hätte sie dann nicht doch eine Professur erst in Dresden und schließlich in Potsdam erhalten. Sie war und ist gefragt als Gutachterin bei universitären Akkreditierungsverfahren und Förderung von Forschungsprojekten.
Ihr Ziel als erste Frau im Präsidentenamt der nach wie vor männerdominierten Gemeinschaft? »Ich sehe die Leibniz-Sozietät als eine Gelehrtengemeinschaft, in der sich alle Mitglieder wohlfühlen sollen.« Das erfordere auch eine Neufindung. Die Altersspanne der Sozietät reicht von 37 bis 97 Jahren. Zugewählten jüngeren Mitgliedern aus dem In- und Ausland seien neue Anreize zu bieten. »Die Mitglieder kommen aus 23 Ländern und vertreten ein breites Fächerspektrum«, sagt Gerda Haßler.
Der Anteil von Wissenschaftlerinnen in der Sozietät sei noch zu gering, wie allerorten in der Bundesrepublik. Folge jahrhundertelanger Tradition »frauenfreier Räume«, geschuldet der Langlebigkeit von Vorurteilen und Stereotypen, wie es in der Chronik zum Jubiläum heißt. Dort ist auch zu erfahren, dass der Frauenanteil bei Professuren in der Bundesrepublik 2021 in den Ingenieurwissenschaften nur 15 Prozent, in der Mathematik und den Naturwissenschaften 21 und in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 33 Prozent betrug.
»Das ist schade«, bedauert Gerda Haßler, »weil Frauen vielfach eine andere Sicht auf die Dinge haben, was sehr gewinnbringend sein kann.« Ähnlich wie in der DDR erlebe sie auch heute noch, dass von männlichen Kollegen »mit Erschrecken zur Kenntnis genommen wird, wenn man als Frau eine eigene Meinung hat und diese auch selbstbewusst äußert«. Die Präsidentin möchte die vielfältigen Potenziale der Mitglieder stärker nutzen und zu einer effektiveren interdisziplinären Zusammenarbeit der geistes- und naturwissenschaftlichen Klassen gelangen.
Ihr Vorgänger Gerhard Banse, Jg. 1946, Technikphilosoph, erklärt gegenüber »nd«, sein Credo als Präsident der Leibniz-Sozietät sei »Kontinuität und Wandel« gewesen, das heißt, »anzuknüpfen, zu bewahren und fortzuführen, was meine drei Vorgänger angestoßen haben. Diese waren der von den Nazis ins Exil getriebene jüdische Arzt und Biochemiker Samuel M. Rapoport, der Philosoph Herbert Hörz und der Astronom Dieter B. Herrmann. Der langjährige Leiter der Archenhold-Sternwarte hatte bereits die Losung «Internet ersetzt Papier» ausgegeben. Die auf Nachhaltigkeit zielende Initiative zahlte sich aus, schlägt sich in «breiter beachtlicher» öffentlicher Wahrnehmung der Forschungsergebnisse der Mitglieder der Leibniz-Sozietät nieder, belegt durch die zunehmende Zahl von Zugriffen auf deren online publizierte Aufsätze und Artikel.
Aber auch auf die Vielzahl der Printveröffentlichungen ist Banse stolz, die vor allem dank des Berliner Trafo-Verlages möglich waren und sind, Sitzungen, Kolloquien und Symposien dokumentieren: 75 Bände «Abhandlungen» und 156 Editionen der «Sitzungberichte». Und ja, Banse ist von der gesellschaftlichen Relevanz und Wirkmächtigkeit der Arbeiten der Sozietät überzeugt. Der Kreis Pädagogik beispielsweise pflege nicht nur schöpferischen Austausch zu Kollegen im fernen Australien, sondern unterhalte ebenso engen Kontakt zum Leibniz-Gymnasium in Berlin-Kreuzberg.
Eine Tagung zur Stoffwirtschaft wiederum habe Möglichkeiten des Recyceln von Bauschutt aufgezeigt. «Wie verwertbare Rohstoffe in den wirtschaftlichen Kreislauf zurückgeführt werden können, haben wir auch schon in der DDR angesprochen. Die Diskussion wurde nicht zu einem erfolgreichen Ende geführt, und das ist sie heute noch nicht», bemerkt Banse. Und ergänzt: Mit den neuen Kommunikationstechnologien wie etwa den Handys stünden weitere Herausforderungen an.
Die Leibniz-Sozietät, die 314 Mitglieder zählt (die gut bestallte BBAW hat nur knapp 100 mehr), sei eine «Effizienzmaschine, ein Effizienzwunder», sagt Banse und scheint selbst überrascht zu sein, dass dies bei hauptsächlich ehrenamtlicher Tätigkeit und spärlichen finanziellen Mitteln machbar ist. «20 000 Euro Zuschuss vom Senat jährlich sowie die Beiträge der Mitglieder und deren Spenden sind alles, worauf wir uns stützen können.»
Der Schatzmeister des Vereins, Heinz-Jürgen Rothe, ebenfalls Jg. 1946, kann dies nur bestätigen. Als Arbeitspsychologe dürfte er Selbstausbeutung aber eigentlich nicht gutheißen? Rothe schmunzelt über die Frage. Und gesteht, er sei selbst «in diesem Netz verfangen». Seit zwei Jahren ist er Finanzverwalter der Leibniz-Sozietät, davor war er Sekretär des Präsidiums. Als sein Nachfolger in dieser Funktion das Handtuch warf, hat Rothe ein Jahr lang zwei Funktionen ausgeübt.
Seine wissenschaftliche Laufbahn begann er am AdW-Zentralinstitut für Kybernetik (ein Zauberwort in der DDR); 1991 habilitierte er sich an der Universität Kassel zum Aufbau von Expertensystemen. Die zu Beginn des neuen Millenniums gestarteten Exzellenzinitiativen findet er gut und wichtig, nicht minder aber auch die Förderung wissenschaftlicher Neugier und Talente ab früher Kindheit und Jugend, woran es hierzulande allerdings mangele. Auf die Frage, wie seine Diagnose lauten würde, hätte er als Psychologe Deutschland auf der Couch, wehrt er zunächst ab: «Als Arbeitspsychologe habe ich nie eine Couch gebraucht.» Und gibt dann doch einen – ziemlich ernüchternden – Befund ab: «Ein problematischer Fall, eine gespaltene Gesellschaft, weitgehende Verunsicherung, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich – und das ist nicht etwas, was man als Quadratur des Kreises bezeichnen könnte.»
In der «besten aller möglichen Welten» zu leben, wie es Leibniz in seiner «Theodizee» formulierte – worüber seinerzeit Voltaire böse spöttelte –, glauben meine Gesprächspartner nicht. Ihr wissenschaftliches Arbeiten verstehen sie als ein Mittun zur Annäherung an eine ebensolche, eine den Menschen und der Natur freundlicheren, gerechteren, friedlicheren Welt. Auch derart sind sie ihrem Namensgeber verbunden, dessen Grundsatz «Theoria cum praxi» lautete und dessen Konterfei auf dem Logo der Sozietät prangt. Dieses schuf übrigens ein italienischer Maler, Grafiker und Antifaschist, der als Partisan gegen Mussolini und Hitler gekämpft hatte: Gabriele Mucchi, im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts in Turin geboren und im zweiten Jahr des 21. Jahrhunderts in Mailand im Alter von 102 Jahren verstorben. Zumindest ebenfalls ein Säculum zu vollenden, wünscht man auch der nun die magische 30 überschreitenden Leibniz-Sozietät.
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