Nach Wagner-Aufstand: Erschüttert, aber stabil

Im Zuge des Wagner-Aufstands wird deutlich, dass Netzwerke immer noch das zentrale Moment des Herrschaftssystems in Russland sind, meint Lutz Brangsch

  • Lutz Brangsch
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Affäre um den Wagner-Anführer Jewgeni Prigoschin gibt Anlass zu Analysen und Spekulationen verschiedenster Art. Wir lesen viel über die persönlichen Netzwerke und Interessen verschiedener Gruppierungen in den Eliten sowie Spekulationen zur Stabilität Russlands. Prigoschin stellte aus der Mitte der Macht den Kurs der russischen Regierung in Frage. Auch wenn er in den Eliten keine Freunde hat, wurde das sowohl von Kriegsanhängern, die sich einen radikaleren Kurs wünschen, als auch von Kriegsgegnern so verstanden.

Die eindeutige Position Putins am Samstagmorgen und sein scheinbar spätes öffentliches Reagieren dürfte Ergebnis erster erfolgloser Versuche der Vermittlung in den Netzwerken der Macht gewesen sein. Man kann das vorsichtige Reagieren der Armee unter diesem Gesichtspunkt auch als kluge Entscheidung und in der Logik eines oligarchischen Staates liegend interpretieren. Ein derartiger Elitenkonflikt ist heute nicht mehr in Feldschlachten zu lösen, das war allen Beteiligten klar. Lukaschenko wird nicht als alter Freund mit Prigoschin gesprochen haben. Er übermittelte ihm eine Botschaft von Putin, in der er die Vernichtung seiner Kolonnen angekündigt haben dürfte. Aber bei derartigen Betrachtungen werden die langfristig wirkenden Hintergründe gerne übersehen. Es bleibt die Frage offen, warum die Staatlichkeit schwach bleibt und die Netzwerke immer noch das zentrale Moment des Herrschaftssystems sind.

Auch wenn es Prigoschin vordergründig unter anderem um die Lösung der festgefahrenen Situation im Ukraine-Konflikt ging, rührte er an einen wunden Punkt: Er machte das Unfertige und die innere Widersprüchlichkeit des politischen Systems deutlich. Russland befindet sich seit mehr als 20 Jahren in einem Prozess der Suche nach einem Weg zu einem eigenen tragfähigen Entwicklungsmodell. Erst vor wenigen Wochen hat Putin auf dem Weltwirtschaftsforum in Sankt Petersburg die Umrisse dieses Ziels umschrieben – eine moderne Volkswirtschaft in einer multilateralen Weltwirtschaftsordnung, dominiert von den Interessen einer innovationsorientierten Unternehmer*innenschaft, gestaltet von einem paternalistisch-konservativen Staat.

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Im Kern ist es ein neoliberales Projekt einer angebotsorientierten Ökonomie, frei von Gewerkschaften und sozialer Opposition. Dieser Umbau ist das Projekt Putins, nicht die Ukraine. Eine Eskalation des Krieges oder ein Frieden zu den Konditionen des Westens stehen diesem Projekt gleichermaßen entgegen. Prigoschins Coup zeigt, dass das politische System dieser Komplexität nicht gewachsen ist. Die Reaktionen der Öffentlichkeit machen zudem deutlich, dass der Konservatismus als Kern der ideologischen Formierung dieser neuen Gesellschaft in seinen Wirkungen unberechenbar ist. Prigoschins Entmachtung und die Aufrüstung der Nationalgarde bedeuten eine Stärkung der Zentralgewalt gegen alle Versuch der Eliten, eigene Machtzentren aufzubauen und damit die Rolle des Staates bei diesem Umbau in Frage zu stellen.

Damit aber ist auch ein Dilemma gesetzt: Wie stabil ist ein Staat, der durch informelle Netzwerke gerettet wird? Er schöpft seine Stabilität aus der Schwäche der Opposition und aus der Passivität der Massen. Vor der Affäre hatte der Kreis um den Oppositionellen Alexei Nawalny zu einer Kampagne gegen den Krieg und das politische System aufgerufen. Doch die linke Opposition ist zersplittert, träumt von sozialdemokratischen Reformen oder anderen Lösungen, für die im Moment keine Basis besteht.

Andererseits – wie geht die Passivität der Massen mit einer notwendigen konservativen Mobilisierung zusammen? In einem auf der russischen oppositionellen Plattform altleft.org schon vor einiger Zeit veröffentlichten Artikel von Liza Kostikova heißt es, dass die größte Gefahr für Putin der enttäuschte Konservatismus sei. Die jüngsten Ereignisse scheinen das zu bestätigen.

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