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Ausbildung mit Atmosphäre in Brandenburg
Nicht nur Handwerksbetriebe müssen sich heutzutage etwas einfallen lassen, um noch Lehrlinge zu finden
Auf dem Hof des Bildungs- und Innovationscampus der Handwerkskammer in Götz (Potsdam-Mittelmark) parkt am Freitag ein Kleinbus. Das Fahrzeug ist fürs Camping ausgerüstet und nun noch einmal umgerüstet für einen ganz anderen Zweck. Im Auftrag des Wirtschaftsministeriums reist dieser Bus die nächsten fünf Tage durch Brandenburg und wirbt an zehn Stationen für eine Berufsausbildung. Im Kofferraum liegen neckische Brillen und komische Hüte für lustige Fotomotive bereit. So kann man junge Menschen erst einmal anlocken, um dann mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Dabei geht es um eine durchaus ernste Angelegenheit.
Viele Schulabgänger finden nicht selbst den Weg in die Jugendberufsagenturen. Sie sollen mit dem Bus gewissermaßen abgeholt werden. Die Botschaft lautet: in den Sommerferien nicht einfach nur abhängen, sondern sich rechtzeitig um einen Ausbildungsplatz kümmern. Die Chancen stehen so gut, wie es sich die verlorenen Generationen der 90er Jahre nicht erträumen durften. Rund 14 000 Ausbildungsplätze würden zurzeit in Brandenburg angeboten, noch einmal etwa 500 mehr als im vergangenen Jahr, erläutert Ramona Schröder, Regionaldirektionschefin der Arbeitsagentur. Dem stünden nur 11 000 bis 12 000 Bewerber gegenüber. Zu erlernen gibt es 300 verschiedene Berufe. Bei diesem Überangebot sehe der eine oder andere vielleicht nicht sofort ein, warum er nicht noch länger warten solle, weiß Schröder. Sie hat die Antwort: Noch bestehe eine große Auswahl.
Wer sich erst später darum kümmert, müsse nehmen, was dann noch übrig sei. Jungs sehnen sich den Angaben zufolge unverändert seit Jahrzehnten vor allem danach, KfZ-Mechatroniker oder Fachinformatiker zu werden, Mädchen streben eher in medizinische oder Büroberufe. Die Begeisterung für das KfZ-Gewerbe sei nach wie vor so hoch, obwohl die Autoindustrie mit dem Übergang zu Elektrofahrzeugen vor einem gewaltigen Umbruch stehe, wie Ralph Bührig erinnert. Er ist Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Potsdam und damit gewissermaßen der Hausherr im Bildungscampus von Götz. Allein das Handwerk in Westbrandenburg hat 1000 offene Lehrstellen. Aber die meisten Handwerksberufe stehen in der Rangliste der beliebtesten Jobs nicht auf den vorderen Plätzen. Als DDR-Kind kann sich Bührig noch erinnern, dass Handwerksbetriebe früher in den Innenstädten ansässig waren. Spielende Kinder konnten durch die offenen Hoftüren einen Blick erhaschen, wie da gewerkelt wurde. Heutzutage sei das Handwerk in Gewerbegebiete abgeschoben. Daran könne es liegen, dass junge Leute nicht mehr einen Handwerksberuf anstrebten, wenn sie über ihre Zukunft nachdächten, sagt Bührig. In einem Laden sei dagegen jeder einmal gewesen und hab eine Vorstellung, was eine Verkäuferin und ein Kassierer machten.
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Regelmäßig treten mehr Kollegen in den Ruhestand als Schulabgänger nachrücken. Das habe dazu geführt, dass praktisch alle Branchen Personal suchten, bestätigt Arbeitsagenturchefin Schröder. Die Firmen könnten sich nicht mehr zurücklehnen und abwarten, dass Bewerber von allein zu ihnen fänden, weiß Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD). Sie müssten sich etwas einfallen lassen. Steinbach gibt ein Stichwort: »Die Ausbildungsatmosphäre muss stimmen.« Es wäre eine ausgezeichnete Werbung, wenn ein Lehrling bei einer Fete erzähle: »Ich bin jetzt bei Firma XY und fühle mich da wohl. Ich muss da nicht nur Kaffee kochen.«
Eine Rolle spielt natürlich auch: Fährt ein Zug oder ein Bus zum Ausbildungsbetrieb? Finden die Jugendlichen dort eine Bude? Wie flexibel sind die Arbeitszeiten? Welche Perspektive bietet der Beruf? Wie ist die Bezahlung? Jugendliche in ein Gespräch über ihre berufliche Zukunft zu verwickeln, ist gar nicht so einfach. Arbeitsagenturchefin Schröder probiert es auf dem Bildungscampus in Götz bei Elftklässlern. Ein paar Lehrlinge, die gerade Pause haben, gesellen sich dazu. »Wir haben unwahrscheinlich viele gute Ausbildungsangebote«, gerät Schröder ins Schwärmen. »Kümmert Euch jetzt darum! Wartet nicht, bis der Sommer vorbei ist!« Offiziell beginnt das neue Ausbildungsjahr am 1. August. Aber auch im September oder Oktober ist der Einstieg noch möglich. »Nach einer betrieblichen Ausbildung kann man tolle Jobs bekommen und verdient auch gutes Geld«, sagt Schröder den Jugendlichen. Einige hören aufmerksam zu, andere schwatzen lieber miteinander. Von den Lehrlingen winkt einer ab und trollt sich, als Schröder eine gute Bezahlung verheißt. Was nützt es, wenn Preise und Mieten zu schnell steigen?
Zurzeit stecken Deutschland und Brandenburg in einer Wirtschaftskrise. Steinbach erwartet: »Wir werden noch ein weiteres Jahr zu kämpfen haben. In Panik müssen wir aber nicht verfallen.«
»Krisenbedingt zeigen sich erste Bremsspuren am Arbeitsmarkt«, urteilt Alexander Schirp von den Unternehmensverbänden in Berlin und Brandenburg. Zwar wachse die Beschäftigungsquote noch an, aber deutlich langsamer.
- In Berlin waren im Juni 184 877 Einwohner arbeitslos gemeldet, also 924 mehr als im Mai und 8910 mehr als vor einem Jahr. Die Arbeitslosenquote stieg im Vergleich zum Juni 2022 um 0,2 Prozentpunkte auf 8,9 Prozent.
- In Brandenburg sind derzeit 76 784 Menschen arbeitslos, 390 weniger als vor einem Monat und 4768 weniger als vor einem Jahr. Die Arbeitslosenquote ist binnen Jahresfrist um 0,4 Prozentpunkte auf 5,8 Prozent gestiegen.
- 1,67 Millionen Berliner und 881 000 Brandenburger sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das sind 1,8 Prozent beziehungsweise 0,5 Prozent mehr als vor einem Jahr.
- In Berlin sind der Arbeitsagentur 19 711 offene Stellen gemeldet, in Brandenburg 25 249. af
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