Die Linke: Sahra Wagenknecht schweigt zur Spaltung

Der Linke-Abgeordnete Alexander King lädt zur Eröffnung seines nie geschlossenen Wahlkreisbüros – die Spaltung ist das große Thema

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 9 Min.
Sahra Wagenknecht (l.) mit Martin Rutsch (Mitte) und Alexander King (r.) beim Bad in der Menge.
Sahra Wagenknecht (l.) mit Martin Rutsch (Mitte) und Alexander King (r.) beim Bad in der Menge.

Das Kiezbüro der Linken in der Ladenzeile eines 20-stöckigen Hochhauses ist sehr klein. Zur dazugehörigen Toilette geht es durch eine winzige Abstellkammer. Man muss die eine Tür erst schließen, um die andere öffnen zu können, so eng ist es. Hier in Berlin-Marienfelde, tief im Südwesten der Hauptstadt, muss die Partei von jeher eher kleine Brötchen backen. Es ist schon beachtlich, dass es dieses Kiezbüro überhaupt gibt und wie es die Zeiten überstanden hat.

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Vor sechs Jahren eröffnet, nutzte es bis zur Berliner Abgeordnetenhauswahl im September 2021 Harald Gindra als Wahlkreisbüro. Im Dezember 2021 rückte Alexander King in die Linksfraktion nach und übernahm beide Büros, die mit der Wahl im Bezirk Tempelhof-Schöneberg herrenlos geworden waren. Nur eins davon finanzierte ihm regelgerecht das Landesparlament. Das andere in der Hildburghauser Straße 29 – das im Hochhaus – bezahlte King aus eigener Tasche. »Um Präsenz für Die Linke zu erhalten«, wie er sagt. Er machte das sogar weiter, als er bei der Wiederholungswahl im Februar 2023 sein Mandat einbüßte. Nun ist King zurück im Abgeordnetenhaus. Am 1. Juni rückte er nach, weil Sandra Brunner ihr Mandat niederlegte.

So kam es, dass Alexander King nun am späten Donnerstagnachmittag zur offiziellen Wiedereröffnung seines Wahlkreisbüros an der Hildburghauser Straße einlud, obwohl er es eigentlich nie geschlossen hatte. Viele sind gekommen, um die symbolische Eröffnung zu feiern. Als Besuchermagnet ist Sahra Wagenknecht angekündigt, die King aus seiner Zeit als Referent der Bundestagsfraktion kennt. Die Politikerin wird sehnlich erwartet – und als eine Limousine mit getönten Scheiben auf den Platz am Wahlkreisbüro rollt, denken viele, darin müsse sie sitzen.

Stattdessen steigt aber ein Überraschungsgast aus – Amira Mohamed Ali, die Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Sie tritt auf die kleine Bühne und lobt Alexander King in den höchsten Tönen, seine »Nähe zu den Menschen«. Sie findet: »Davon brauchen wir mehr.« Die Fraktionschefin erinnert sich, wie sie ganz neu in Berlin war und von Alexander King und seinen Genossen herzlich empfangen wurde. Von denen habe sie in Anspielung auf ihren Namensvetter, den berühmten Schwergewichtsweltmeister Muhammad Ali (1942–2016), rote Boxhandschuhe geschenkt bekommen, erinnert sich Amira Mohamed Ali dankbar.

Auch die Bundestagsabgeordneten Jessica Tatti, Żaklin Nastić und Alexander Ulrich lassen sich blicken. Dann kommt aber Sahra Wagenknecht und alle anderen sind damit schlagartig uninteressant. Alexander King kündigt seine frühere Chefin an. Sie sei vor sechs Jahren hier gewesen, zur allerersten Eröffnung des Büros. »Damals hat es Hunde und Katzen geregnet, aber Sahra Wagenknecht ist trotzdem gekommen.« Viele haben laut King hinterher gefragt, ob Wagenknecht nicht noch einmal vorbeischauen könne – und jetzt sei es soweit.

Die Politikerin beginnt schon zu reden, da nimmt King ihr noch die störende Handtasche ab. »Ich habe mich so gefreut, als ich erfahren habe, dass Alexander King wieder ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen ist. Solche Leute brauchen wir da mehr«, schwärmt Wagenknecht. Es klingt nicht nach Höflichkeitsfloskel. Es scheint von Herzen zu kommen von der Frau, die nicht dafür bekannt ist, leichthin öffentlich über persönliche Gefühle zu sprechen. Es ist am Donnerstag auch nur ein kurzer Moment, dann knöpft sie sich routiniert die Politik der Ampelkoalition vor. Als geschickten Übergang dazu wählt sie den Realitätssinn und die Bürgernähe von King im Kontrast zu Menschen, die in einer »hippen Großstadtblase« leben, »wo Geld nicht so wichtig ist, weil: man hat ja genug davon«. Dafür gibt es johlenden Applaus und zustimmende Zurufe.

Dicht gedrängt stehen und sitzen die Zuhörer auf dem kleinen Platz, der u-förmig von Gebäuden begrenzt ist und nur zu einer Seite sowie durch einen Durchgang offen. Sie hängen an den Lippen von Wagenknecht. Nur die kleinen Kinder, die auf einer Hüpfburg herumtollen und begeistert kreischen, kümmert es gar nicht, was die Politikerin sagt. Phasenweise übertönen die Kinder ihre Rede beinahe.

»Für viele ist es jetzt schon ein Problem, wie sie über die Runden kommen«, sagt Wagenknecht angesichts der gestiegenen Lebensmittelpreise. »Die Ampel macht Gesetze, die den Leuten das Leben noch schwerer machen.« Die geplante Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns um 41 Cent sei kläglich. Real handele es sich um eine Kürzung um drei Prozent, da die Inflation sechs Prozent betrage. Es bräuchte einen Preisdeckel, damit die Kunden im Laden nicht Obst und Gemüse liegen lassen müssen – und sich ein grüner Minister noch lustig mache über Leute, die zu Billigfleisch greifen.

Die 53-Jährige kritisiert scharf die aus ihrer Sicht »völlig idiotische Energiepolitik« von SPD, FDP und Grünen. Die heute nötige Menge Energie allein mit Windkraft und Solaranlagen zu produzieren, »das funktioniert nicht«. Deshalb würden Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. »Das russische Gas – igitt, igitt, das will ja keiner mehr. Da kaufen wir dreckiges LNG-Gas. Die US-Industrie freut sich und die Verbraucher zahlen die Zeche.« Sei das wirklich grüne Politik oder nicht vielmehr nur Lobbypolitik, fragt sie. Denn mit Klimaschutz habe das ja überhaupt nichts zu tun. »Andere europäische Länder kaufen noch russisches Gas«, erinnert Wagenknecht. Sie meint, dass es Quatsch wäre, funktionierende Gasheizungen herauszureißen. »Dieser Wärmepumpen-Unsinn wird die Mietkosten noch einmal richtig anheizen.«

Außerdem fordert die Bundestagsabgeordnete Friedensverhandlungen. Von der lange angekündigten Frühjahrsoffensive der ukrainischen Streitkräfte gegen die russischen Truppen sagt sie: »Und was ist herausgekommen? Noch mehr Tote! Junge Männer sterben dafür, dass sich die Frontlinie nochmal fünf Meter nach links oder rechts verschiebt.«

Wagenknecht verwendet den Großteil ihrer Rede darauf, mit der Ampel-Koalition abzurechnen. Bei der nächsten Bundestagswahl müsse es andere Mehrheiten geben, wünscht sie sich. Auf die eigene Partei geht sie so gut wie überhaupt nicht ein. Sie sagt nur beiläufig, dass es durchaus noch gute Abgeordnete gebe. »Wir haben auch den einen oder anderen bei uns in der Bundestagsfraktion.« Der Begriff »Die Linke« kommt in ihrer Rede allerdings nicht vor. Sie sagt auch nichts über eine mögliche Spaltung und die Gründung einer Wagenknecht-Partei, die hinter den Kulissen vorbereitet wird – ohne dass dabei klar ist, ob und wann es wirklich dazu kommt.

Es fragt auch niemand danach aus der Menge, die zu Wagenknecht strömt, als sie von der Bühne steigt und an einem extra bereitgehaltenen Stehtisch Autogramme gibt und mit dem einen und anderen ein paar Worte wechselt. Dass keiner nach der neuen Partei fragt, »hat mich gewundert«, berichtet der Bezirksverordnete Martin Rutsch, der die ganze Zeit mit am Tisch steht. Zumindest hat Rutsch nichts dergleichen gehört. Auf der Bühne nebenan spielt wieder das »Duo vom Balkon«. Bei der Lautstärke der Musik ist es schier unmöglich, selbst nur zwei Schritte hinter Wagenknecht ihre Gespräche mitzuhören.

Viele hätten gern ein Erinnerungsfoto mit der 53-Jährigen, die sie regelrecht verehren, fast schon anbeten. Es kommt auch vor, dass sich jemand vordrängelt oder die Person eifersüchtig beiseite schiebt, die vor ihm zu lange die Aufmerksamkeit von Wagenknecht beansprucht.

So manchem gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, bis zu ihr vorzudringen. Darunter ein Taxifahrer, der aus Tunesien stammt und seit mittlerweile 13 Jahren in Berlin lebt und arbeitet. Ihn ärgern die vielen Baustellen, an denen aber oft kein Arbeiter zu sehen ist. »Bestimmt 100 Baustellen gibt es von der Innenstadt bis hier«, schimpft der Taxifahrer. In den letzten zwei, drei Jahren sei das so schlimm geworden. Für zwei oder drei Kilometer Fahrt brauche er 20 Minuten. So könne das doch nicht weitergehen. Der Taxifahrer möchte Wagenknecht bitten, etwas dagegen zu unternehmen. Doch es gelingt ihm nicht.

Mehr Glück hat ein älterer Herr, der allerdings Wagenknecht in ein paar Sekunden nicht alles sagen kann, was ihm auf dem Herzen liegt. Darum spricht er ein paar Schritte entfernt mit einem anderen Mann weiter. »Ich kann sie wählen, aber nicht die Partei«, gesteht er. Dann macht er sich Luft: »Die Bevölkerung ist sauer. Ich habe ein Haus. Ich muss mein ganzes Haus umbauen, eine Wärmepumpe rein. Wo soll ich das Geld hernehmen? Ich bin Rentner. Die sind doch behämmert!«

Obwohl die Gründung einer Wagenknecht-Partei unter den anwesenden Genossen das Thema Nummer eins ist und unter vier Augen auch offen darüber gesprochen wird, will sich kaum einer mit seinem Namen zitieren lassen. Immerhin gibt der ehemalige Bundestagsabgeordnete Alexander Neu zu Protokoll: »Ich habe noch keine Informationen über die Gründung einer neuen Partei. Aber es gibt auf jeden Fall im Parteienspektrum eine Lücke für eine linke Partei, die die zeitgemäßen Fragen beantwortet.«

Der Gastgeber Alexander King ist der Einzige in der 22-köpfigen Berliner Abgeordnetenhausfraktion, bei dem mit hoher Wahrscheinlichkeit vermutet werden darf: Wenn tatsächlich eine Wagenknecht-Partei gegründet wird, so würde er sicher dazustoßen. Aber auch King kann und will nichts anderes dazu sagen als Sahra Wagenknecht selbst: Dass es sich im Herbst entscheiden werde. Wenn Wagenknecht das so formuliere, dann gehe er davon aus, dass es auch so sei, erklärt King. Denn: »Ich kenne sie als jemanden, der nicht trickst und nicht taktiert.«

Die hinter vorgehaltener Hand zu einer Parteigründung geäußerten Ansichten bilden ein breites Spektrum ab. Einer, dem es zu seinem Bedauern nicht gelingt, ein paar Worte an Wagenknecht zu richten, erzählt freimütig, was er ihr gern gesagt hätte. Nur einen Satz: »Sahra, mach endlich Nägel mit Köpfen!« Aus der Linken ist er diese Woche ausgetreten. Er will nun die neue Partei.

Eine andere Person ist weiterhin in der Linken und will es auf jeden Fall bleiben. Wenn Sahra Wagenknecht austritt, wäre das sehr, sehr schade. »Sie sollte in der Partei bleiben.« Aber selbst austreten? Nein!

Die einen sind sich sicher, dass es zur Spaltung kommt. Das sei inzwischen unvermeidlich. Die anderen sagen, die Chancen stünden im Moment 50:50. Es wird diskutiert und diskutiert, als Wagenknecht schon lange weg ist – noch nicht aus der Partei. Vorerst nur aus der Hildburghauser Straße.

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