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Tour de France: Die 9. Etappe im Zeichen von Mathieu van der Poel
Der niederländische Radprofi auf den Spuren seines Opas, Radsportheld Raymond Poulidor
Frankreich bricht auseinander: in eine Jugend nicht nur in den Vorstädten, die das Vertrauen in die staatlichen Institutionen total verloren hat, eine Mehrheit der Gesellschaft, die über die Gewalt erzürnt ist, die Gründe aber nachvollziehen kann, und in eine Elite, die diese Realität nicht anerkennen will. Irgendwo dazwischen wabert die Blase Tour de France, die sich komplett auf sich selbst bezogen durch das Land bewegt.
Anlässlich der neunten Etappe der Tour de France ging es vor allem darum, dass der Zugang zum Ziel auf dem Vulkan Puy de Dome für das Publikum beschränkt ist. »Die Vulkankette der 80 Vulkane, die bis zu 95 000 Jahre alt sind, ist vor fünf Jahren ins Kulturerbe der Unesco aufgenommen worden. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen«, erklärte Tour-Direktor Christian Prudhomme im französischen Fernsehen. Auch ansonsten drehte sich das Spektakel um historische Ereignisse, die nicht ganz so weit zurückliegen, aber ebenso eine feine Ablenkung von den aktuellen Problemen bieten. Startort der neunten Etappe war Saint-Leonard-de-Noblat. Hier lebte für viele Jahrzehnte Raymond Poulidor – ein Radsportheld vieler Franzosen. Auf dem Friedhof des Ortes liegt er begraben. Dort legte Prudhomme im Beisein von Corinne, einer der beiden Töchter Poulidors, einen Kranz nieder.
Prudhomme wirkte gerührt. »Es war Poulidor, der mir den Weg zum Radsport geöffnet hat«, erklärte der Tour-Chef gegenüber »nd«. »Als kleiner Junge hörte ich am Radio die Übertragungen der Tour, hörte, wie er attackierte, wie er sich mit Jacques Anquetil duellierte. Später traf ich ihn selbst und erlebte, wie stolz er auf seine Enkel war, auf David, vor allem aber auf Mathieu. ›Mathieu ist ein solches Talent‹, schwärmte er.«
Es geht um Mathieu van der Poel. Und natürlich war diese Etappe auch für den Poulidor-Enkel etwas ganz Besonderes. Die Vulkankette des Puy de Dome war schließlich schon Rennarena des Opas. Am 12. Juli 1964 stiefelte er hier Schulter an Schulter mit seinem Rivalen Anquetil die steilen Rampen hoch. In Saint-Leonard-de-Noblat wurde zum Anlass des Etappenstarts im örtlichen Gymnasium eine Ausstellung eröffnet, die genau daran erinnerte. Verpixelte Fernsehbilder waren zu sehen, wie die beiden sich mitten im Rennen tatsächlich an den Schultern berührten, der eine die Stütze des anderen war.
Die Legende geht, dass Poulidor als stärkerer Kletterer in diesem Jahr die Chance hatte, Anquetil bei der Frankreich-Rundfahrt zu besiegen. Denn Anquetil fühlte sich an diesem Tag nicht gut, versteckte das aber hinter einem ausdruckslosen Gesicht. Poulidor zögerte mit der Attacke. Erst spät fuhr er davon, nahm Anquetil immerhin 42 Sekunden ab. Aber es hätten Minuten sein können. Er musste dann auch noch hinnehmen, dass die beiden Spanier Julio Jimenez und Federico Bahamontes an ihm vorbeiflogen und die Bonussekunden stibitzten. Am Ende verlor er diese Frankreich-Rundfahrt um 55 Sekunden. In diesem fernen Jahr 1964 kam Poulidor der Gelegenheit am nächsten, sein Etikett als »ewiger Zweiter« abzulegen. Aber es wurde nichts daraus.
Für Enkel van der Poel ist das Gelbe Trikot außer Reichweite, nach den ersten Bergetappen hatte er mehr als eine Stunde Rückstand auf die Führenden. Gern allerdings hätte sich der Sohn des niederländischen Radprofis Adrie van der Poel und der Poulidor-Tochter Corinne bei dieser Tour schon in die Liste der Etappensieger eingetragen. Aber die Rampen des Baskenlands waren zu steil für ihn. Und beim Etappenfinale in Limoges am Sonnabend, dessen hügliges Profil dem Mountainbike-König perfekt auf den Leib geschrieben schien, musste er dann doch viel Vorarbeit für seinen Teamkollegen Jasper Philipsen leisten. Dieser ist mit bislang drei Etappensiegen der beste Sprinter im gesamten Peloton.
»Ich dachte nicht, dass Jasper die Beine hat, ins Finale zu kommen. Dann schaffte er es aber, und das Team entschied, dass für ihn gefahren werden soll«, sagte van der Poel ein wenig betrübt im Ziel. Philipsen wurde erstmals bei dieser Tour geschlagen. Ex-Weltmeister Mads Pedersen war im langen Bergaufsprint etwas stärker. Pedersen war an diesem Tag aber vor allem froh, nicht das Schicksal von Mark Cavendish geteilt zu haben. Der Brite stürzte und stieg mit gebrochenem Schlüsselbein in den Begleitwagen. Aus war der Traum, am großen Eddy Merckx in der Anzahl der Etappensiege vorbeizuziehen. Das versteinerte Gesicht von Cavendish war ein Monument der Traurigkeit.
In Saint-Leonard-de-Noblat herrschte hingegen Freude. Mathieu van der Poel war zum ersten Mal seit der Beerdigung seines Opas hier. »Damals war es ein trauriger Moment. Jetzt aber kann ich mich über das Wiedersehen mit dem Ort, in dem meine Mutter ihre Kindheit und Jugend verbrachte, freuen«, sagte er. In der Ausstellung gab es Fotos, die ihn mit Bruder David und Opa Raymond im Sprint auf dem Rennrad zeigen. Ein weiteres war eine Montage aus einem Porträtfoto von ihm und einem des Großvaters. Und, man kann es nicht anders sagen, die beiden Gesichtshälften glichen sich enorm. Nur die Falten und weißen Augenbrauen in der Hälfte von Poulidor ließen erkennen, dass es sich dort um den Alten handelte.
Tom Mustroph, Radsportautor und
Dopingexperte, berichtet zum 22. Mal
für »nd« von der Tour de France.
Sehr gerührt war auch Corinne Poulidor, die ebenfalls die Ausstellung besuchte. »Es ist sehr besonders für mich, an den Ort meiner Kindheit zurückzukehren. Und natürlich wünsche ich mir, dass Mathieu am Puy de Dome Familiengeschichte fortschreibt«, meinte sie zu »nd«.
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