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Psychoanalytikerin Alice Miller: Der Weg aus dem Irrgarten

In den gegenwärtigen Debatten über Bildung und Erziehung ließe sich von Alice Miller lernen, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte

  • Gesa Foken und Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 7 Min.
Kritisierte in ihren Schriften zur Erziehung auch ihre eigene Profession: die Psychoanalytikerin Alice Miller (1923–2010)
Kritisierte in ihren Schriften zur Erziehung auch ihre eigene Profession: die Psychoanalytikerin Alice Miller (1923–2010)

Wer gegenwärtig über schulische Bildung in Deutschland nachdenkt, entdeckt ein doppeltes Dilemma. Dass sich Schulerfahrungen von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, wird oft betont; eindrücklicher sind allerdings die Erfahrungsunterschiede je nach Schultyp und Trägerinstitution. Auffällig ist trotz der Unterschiede ein seltsam einheitlicher Auslöser bildungspolitischer Debatten. War es während des Pandemienotstands die anscheinend oder tatsächlich ungenügende schulische Ausrüstung mit digitaler Infrastruktur und digitalen Endgeräten, sind es gegenwärtig die (zunächst in Bayern diskutierten) Anpassungen an den Entwicklungsschub automatisierter Inhaltserstellung, genauer gesagt: der unerlaubte Einsatz des generativen Textprogramms ChatGPT in Abiturprüfungen. Stets sind es veränderte technische Möglichkeiten, die Schule ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, selten die notwendige Auseinandersetzung mit Bildungsproblemen jenseits technologischer Tools.

So sympathisch es nun ist, wenn der Verband bayerischer Lehrer*innen fordert, die Benotung schulischer Leistungen abzuschaffen – die Begründung mit dem Vormarsch der künstlichen Intelligenz zeigt, dass die Forderung zu kurz greift. Die Verfügbarkeit von KI-Systemen würde Schulnoten ad absurdum führen, meinen die Lehrer*innen, und für die Wirtschaft hätten diese ohnehin keine Aussagekraft. Noten seien nicht mehr zeitgemäß. Doch selbst wenn man diesen Einwand in den Ministerien ernst nehmen würde (wonach es nicht aussieht), folgte daraus keineswegs die Abschaffung der Selektionsfunktion von Schule, sondern allenfalls deren Anpassung an neue Erfordernisse.

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Nutzen Schülerinnen und Schüler wie selbstverständlich alle zur Verfügung stehenden Hilfsmittel, um sich einen erfolgversprechenden Abschluss zu sichern – und wir sprechen hier vom Abiturdebakel 2023, also von privilegierten Schülerinnen und Schülern –, dann zeigt sich, dass eine Auseinandersetzung überfällig ist: nämlich darüber, ob es Schule in Deutschland je geschafft hat, aus einer Erziehungsanstalt zu einer Bildungseinrichtung zu werden. Noch dringlicher wird diese Frage, überdenkt man die Probleme an jenen Schulen, an denen Kinder und Jugendliche von Abiturstrategien nicht einmal träumen können. Muss die Schule eine Anstalt zur Verinnerlichung von Anpassungs- und Erfolgsstrategien bleiben, oder kann sie zu einem Ort werden, an dem Heranwachsende die Bildungsfreude ihrer frühen Kindheit weiterentwickeln können?

Erziehung als Traumatisierung

Vor diesem Hintergrund ist an die Erziehungskritik Alice Millers zu erinnern. Als die sogenannten Qualitätsmedien in diesem Jahr des 100. Geburtstags der Psychoanalytikerin gedachten, wurde pflichtschuldig an ihr bahnbrechendes Postulat erinnert, dass menschenwürdige Erziehung nicht der Anpassung, der Abrichtung und Dressur von Kindern zu dienen habe, sondern ihrer Entfaltung. Doch man nutzte die Gelegenheit, auf Erziehungsdefizite hinzuweisen, unter denen Millers Sohn als Kind zu leiden hatte. Damit sollte ihre Glaubwürdigkeit als Kritikerin und Therapeutin in Frage gestellt werden.

Millers Buch »Am Anfang war Erziehung« hatte 1980 nicht nur in den Feuilletons Wirbel ausgelöst. Zunächst bezogen auf die Eltern-Kind-Situation, aber auch unter Beachtung schulischer Situationen und immer im Bewusstsein von »Zuständen, Situationen oder Rechtslagen«, die uns alle betreffen, bezog sich Miller nicht nur auf Katharina Rutschkys Kritik »Schwarzer Pädagogik« (1977). Mehr noch: Sie konnte überhaupt kein Konzept fortschrittlicher Pädagogik ausmachen. »Erziehung« bezeichnete sie als die »Verfolgung des Lebendigen«. Mit »dem wohlwollenden Wort ›Erziehung‹« werde »seelische Grausamkeit mystifiziert«. Dies führe nicht nur in Anwendung körperlicher und seelischer Gewalt zu »Traumatisierungen« der »von der Liebe der Eltern« Abhängigen. Miller problematisierte grundsätzlich jegliche Manipulationen von Heranwachsenden, jede Ver-Rückung und Tabuisierung kindlicher Empfindungen.

Herausfordernd war und ist Millers Kritik insofern, als ihr Anti-Erziehungskonzept keine Ratgeberliteratur ist und Orientierung in nur wenigen, wenn auch eindrücklichen Worten gibt. Statt zu »erziehen«, gelte es, Heranwachsende aufrichtig, das heißt: sich der selbst erlittenen Erniedrigungen bewusst, zu »begleiten«. Herausfordernd ist Millers Kritik aber auch, weil sie nicht vor der eigenen Profession haltmachte und weder die technizistischen Abrichtungen des Behaviorismus noch die psychoanalytisch möglichen Machtstrukturen verschwieg.

In den abwehrenden Erinnerungsartikeln dieses Jahres wurde zwar nicht mehr unter den Teppich gekehrt, dass das Leid ihres Sohnes eine indirekte Folge von Millers eigener Traumatisierung in ihrer Kindheit war – und auch davon, dass ihr Vater von den Nazis umgebracht wurde. Aber anstatt darin einen Beleg für die Richtigkeit ihrer fundamentalen Erziehungskritik zu erkennen, folgerte man aus den Problemen der Theoretikerin mit ihrem eigenen Kind, dass mit der Theorie etwas nicht stimmen könne. Ein ebenso abgeschmacktes wie falsches Muster, bekannt seit der Kritik an Rousseau.

Die Eindringlichkeit von Millers Erziehungskritik verdankt sich unter anderem der Arbeit mit der von Rutschky edierten Erziehungsliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts und den Nachweisen ihres Fortwirkens. Rutschky hatte sich zum Ziel gesetzt, der »Irrationalität als dem unerforschten Zentrum der Erziehung« nachzugehen. Das Konzept Erziehung sei im Kern die neuzeitliche »Rationalisierung des Vernunftzwanges«, also eines Zwangs, den die Aufklärung zunächst als Domestizierung des familiären Alltags durchgesetzt und später als institutionelles, verwissenschaftlichtes System der Anpassung etabliert habe. Erziehung ist der Name für das Programm der soziokulturellen Abrichtung triebgesteuerter Individuen. Als Kontrolle von Sexualität und Aggression sei Erziehung »eine Institutionalisierung der Gewalt«; unerlässlich im Prozess der Zivilisation, den Norbert Elias als Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge beschrieben hat. Rutschky rekonstruierte diesen Prozess als historischen Faktor in der Klassengesellschaft: »Das Bürgertum erwies sich dem Adel insofern überlegen, als es die pädagogische Operationalisierung des zivilisatorischen Zwanges zum Prinzip der Entwicklung machte.«

Von der Fremd- zur Selbstbestimmung

Das Wort Erziehung geht auf »das Ziehen« und »die Zucht« zurück. Seit der Aufklärung wird Zucht paradox als Hilfe zur Selbstbestimmung konzipiert. Die Antinomie dreht sich um jenen verzwickten Sachverhalt, den Immanuel Kant seinerzeit auf die Formel gebracht hat: »Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?« Kant sah das Problem darin, »wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig!« Dieser Gedanke korrespondiert mit dem paradoxen Freiheitsbegriff in seiner Ethik: »Je mehr einer sich selbst zwingen kann, desto freier ist er.« Für Kant war klar: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.« Das dürfe aber nicht darin bestehen, dass er »bloß dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen« werde, lehrte der Philosoph.

Kants aufklärerische Überlegungen zur Erziehung stehen im Kontext ihrer Zeit. Eine fundamentale Kritik oder gar eine grundsätzliche Absage an das Konzept »Erziehung« konnte er nicht denken. Umso mehr bedachte er den gegenläufigen, befreienden Aspekt, der in diesem Konzept eben auch steckt: die Hilfestellung bei der Entwicklung zum Menschen. Dafür gibt es im Deutschen zwei Worte. Während »Erziehung« auf die Zucht zurückverweist, steht das im Englischen erhaltene lateinische »educatio« (ducere = führen) für das umfänglichere Programm, Menschen aus den Irrgärten der ersten und der zweiten, also der gesellschaftlichen, Natur hinauszuführen. Der andere Aspekt wird »Bildung« genannt. Er steht für das Ideal selbstbestimmter Vernunftbetätigung: Durch subjektive Aneignung kultureller Errungenschaften wird die Autonomie der menschlichen Gattung ermöglicht.

Seither laboriert der Diskurs, der seit dem 20. Jahrhundert »Erziehungswissenschaft« genannt wird, an der Dialektik der Aufklärung, dass Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung befähigen und Freiheit aus Unfreiheit hervorgehen soll. Je ungeschützter dies erwogen wurde (wie bei Kant), desto klarer trat der Widerspruch hervor. Je ideologischer der Widerspruch verbrämt wurde (wie in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik des 20. Jahrhunderts), desto mehr tendierte der Diskurs zum Autoritarismus.

In Alice Millers gut begründetem Plädoyer für die »Begleitung« von Heranwachsenden wird deutlich, dass diese mit der Verantwortung für deren Entwicklung verbunden ist. Verantwortung für die und bei der Begleitung – das ist vermutlich der einzig gangbare Weg angesichts der Antinomie von Fremd- und Selbstbestimmung. Aber nicht Verantwortung in dem Sinne, den der latent autoritäre Heidegger-Schüler Hans Jonas meinte. Etwa zeitgleich mit Millers Erziehungsbuch schrieb er in seinem philosophischen Longseller »Das Prinzip Verantwortung«: Das »Ziel der Aufzucht« sei »Erwachsensein«; die »elterliche und staatliche Verantwortung« würde sich daher »überschneiden und ergänzen«. Im Sinne von Alice Miller ist Verantwortung eben keine Legitimation von Herrschaft, sondern Unterstützung bei deren Abschaffung.

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