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Nato-Gipfel in Vilnius: Hirntote leben länger
Die Nato trifft sich in Zeiten des Krieges zum Gipfel in Vilnius. Die Ukraine drängt auf eine engere Zusammenarbeit
»Seit 500 Tagen bringt Moskau Tod und Zerstörung ins Herz Europas, um die Ukraine zu zerstören und die Nato zu spalten.« Jens Stoltenberg, der seinen Vertrag als Nato-Generalsekretär abermals um ein Jahr verlängert, ist sich sicher: »Unser Gipfel wird eine klare Botschaft senden: Die Nato steht zusammen, und Russlands Aggression wird sich nicht rechnen.«
Stoltenberg führt das 1949 gebildete Bündnis in schweren Zeiten. Die Nato hat – ohne offiziell beteiligt zu sein – einen Krieg an der östlichen Bündnisgrenze zu managen. Weder Angreifer Russland noch die sich verteidigende Ukraine, die vom Westen massiv unterstützt wird, haben die Kraft zum Sieg. Wird das Morden also noch jahrelang so weitergehen?
Es ist zu hoffen, dass am Dienstag und Mittwoch beim Nato-Treffens in Vilnius insgeheim auch über Wege zur Entschärfung des Krieges und ein – irgendwann wieder realisierbares – System gemeinsamer Sicherheit nachgedacht wird. Doch im Hier und Heute zählen nur neue Divisionen, mehr Raketen, Panzer und U-Boote. Weitreichende Entscheidungen fallen faktisch über Nacht. Die Nato, die eigentlich auch ein politisches Bündnis sein will, ist im militärischen Modus gefangen, in Brüssel denkt man machtpolitisch und ist sich der wachsenden Bedeutung bewusst.
Dabei wurde das Bündnis vor Kurzem noch für dysfunktional erklärt. »Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der Nato«, sagte Frankreichs Staatspräsident zum 70-jährigen Bestehen des Bündnisses Ende 2019. Es gebe »keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren Nato-Verbündeten«. Davon ist nichts mehr zu spüren.
Schon in wenigen Jahren wird man den jetzt in Vilnius stattfindenden Gipfel womöglich als einen wichtigen Wegpunkt bezeichnen, denn es geht um nicht weniger als »die größte Überarbeitung unserer kollektiven Abschreckung und Verteidigung seit dem Kalten Krieg«, betont Nato-Chef Stoltenberg.
Der Zeitpunkt dafür ist nicht besonders günstig, denn die Nato steht unter Druck. Nicht nur, dass in Europa der schwerste Krieg seit acht Jahrzehnten tobt. Die meisten westlichen Volkswirtschaften sind von einer Rezession bedroht. In Asien macht sich die Supermacht China bereit, die Welt nach ihrem Gutdünken zu formen. Die USA reagieren darauf, müssen sich jedoch – entgegen bisherigen Planungen – doch wieder stärker in Europa engagieren. Nicht nur in der Ukraine, auch innerhalb der Nato. Washington braucht dabei die immer wieder angemahnte sogenannte Lastenteilung stärker denn je. Derzeit erfüllen aber nur 11 der 31 Nato-Mitglieder die Vorgabe, laut der alle Allianzpartner zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts fürs Militär aufwenden sollen. Stoltenberg wird in Vilnius mehr Druck auf die Säumigen ausüben.
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Auf dem Tisch liegen dort auch erste Pläne zur militärischen Neustrukturierung der Nato. Mehr denn je gilt dabei der Artikel 5 des Nato-Vertrages: Wird ein Mitglied angegriffen, stehen ihm alle anderen bei. Bislang war den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland ebenso wie Polen eine Art Stolperdraht-Funktion zugedacht. Die dort verfügbaren Truppen sollten einen möglichen russischen Angriff verlangsamen. Erst danach hätten irgendwann die anderen Nato-Staaten eingegriffen.
Nun will man – das ist eine Lehre aus Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine sowie Ausdruck eines stärkeren Selbstbewusstseins der östlichen Nato-Staaten – neue Kommandostrukturen aufbauen und unmittelbar an der Ostgrenze des Bündnisses ständig einsatzbereite ausländische Kampftruppen vorhalten. Die jeweils 4000 bis 5000 Soldat*innen starken Brigaden werden mit allem ausgerüstet, was man für einen Krieg braucht.
Deutschland hat den Aufbau einer solchen Brigade in Litauen zugesagt, die kanadische und andere Armeen werden folgen. Die jüngste Luftwaffenübung »Air Defender 2023« über Deutschland demonstrierte die Fähigkeit der US-Truppen, rasch in Europa einzugreifen. Mit all diesen Veränderungen soll der Kreml davon überzeugt werden, dass eine weitere Aggression Richtung Nato im Ansatz scheitern würde, heißt es in Brüssel.
Lieber heute als morgen würde sich die Ukraine unter den Schutzschirm der Nato begeben. Doch den mehrfach vehement geäußerten Wunsch nach Aufnahme kann die Nato – so sie nicht blitzartig selbst zur Kriegspartei werden will – nicht erfüllen. Das ist auch die deutsche Position, ebenso wie die von US-Präsident Joe Biden. Doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der zum Gipfel eingeladen ist, will sich nicht mit unkonkreten Aussagen zufriedengeben. Auch hatte er daheim diverse Hoffnungen auf eine engere Zusammenarbeit geweckt. Doch mehr als ein Treffen des neu gebildeten Nato-Ukraine-Rates, bei dem sich die 31 Allianzvertreter mit den in Vilnius anwesenden ukrainischen Vertretern treffen, wird es kaum geben.
Selenskyj, dessen Truppen bislang keine Erwartungen an die Gegenoffensive erfüllen konnten, nimmt dennoch kein Blatt vor den Mund. »Ich will nicht zum Spaß nach Vilnius fahren, wenn die Entscheidung schon vorher gefallen ist.« Weiter sagte er dem US-Sender ABC: »Die Ukraine sollte klare Sicherheitsgarantien bekommen, solange sie nicht in der Nato ist.« Die Nato selbst kommt dafür eher nicht infrage. In den USA spricht man aber davon, man sei bereit, der Ukraine bis zu einem späteren Nato-Beitritt Sicherheitsgarantien zu geben.
Dabei könnte man sich an dem »Modell Israel« orientieren. Washington garantiert in vielfacher Weise das Überleben Israels: politisch, militärisch, wirtschaftlich. Überlegungen, einen solchen Schutzbrief auch für die Ukraine auszustellen, sind neu. Man sei bereit, der Ukraine verschiedene Formen der militärischen Unterstützung zu bieten, Geheimdienstinformationen mit ihr zu teilen und Cyberunterstützung zu leisten, damit sie sich selbst verteidigen und zukünftige Aggressionen abwehren könne, sagte der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan.
Derartige Überlegungen lassen hoffen, dass man in Washington beginnt, darüber nachzudenken, wie man dem Krieg Einhalt gebieten kann. Das wäre die Voraussetzung für Sicherheitsgarantien. Wird sich Kiew auf einen Waffenstillstand einlassen? Und wie will man Moskau zum Mittun überreden? Aus Nato-Kreisen ist dazu wenig zu hören. Dort kümmert man sich in den nächsten zwei Tagen eher um die Sicherheit maritimer Infrastruktur und die Aufnahme Schwedens ins Bündnis. Dagegen stemmt sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan: Er erwarte, dass die EU den Weg für die Türkei zur Mitgliedschaft ebne, damit die Türkei den Weg Schwedens in die Nato ebnen könne.
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