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- Kolumne »Red Flag«
Radfahrer*innen in Berlin: Weniger wert als ein Parkplatz
Berlins Bürgermeister Kai Wegner will die Rückkehr zur »autogerechten Stadt« der 1950er Jahre
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Warum können wir nicht schöne Dinge haben? Überall in Europa machen Städte Platz für Radfahrer*innen: Paris, Amsterdam, Barcelona und London – überall werden neue Radwege gebaut. Autos verstopfen unsere Städte, vergiften unsere Lungen, überfahren unsere Kinder und verbrennen unseren Planeten. Fahrräder sind eine effiziente und angenehme Alternative.
Berlins neuer Senat unter Kai Wegner will jedoch einen Teil von Friedrichshain abreißen, um eine innerstädtische Autobahn auszubauen. Vier Kilometer Autobahn werden über eine Milliarde Euro kosten und mindestens ein Dutzend Clubs zerstören.
Und das ist noch nicht alles! Vor drei Wochen verkündete Berlins Verkehrssenatorin Manja Schreiner, dass alle neuen Radwege auf Eis gelegt werden. Das Moratorium gilt für alle Projekte, die Autospuren oder Parkplätze beeinträchtigen würden – also für alle. Wie viele Radwege gestrichen werden, ist unklar. Der »Tagesspiegel« hat mindestens 18 gezählt, es könnten aber auch viel mehr sein.
»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.
Mit dem ersten Covid-Lockdown im Frühjahr 2020 haben die Berliner Bezirke ein paar Pop-up-Radwege eingerichtet. Doch auch unter Rot-Grün-Rot ging der Bau nur schleppend voran. Im vergangenen Jahr wurden zehn Radfahrer*innen auf Berliner Straßen getötet – überall in der Stadt sind weiß gestrichene Geisterfahrräder zu finden.
Am Tag nach Schreiners Ankündigung versammelten sich über 200 Radfahrer*innen vor der Senatsverwaltung für Verkehr, um zu protestieren. Am vergangenen Wochenende schwangen sich mehr als 10.000 Menschen auf ihre Räder. Vor fünf Jahren sammelte eine Initiative über 100.000 Unterschriften für eine Fahrradinfrastruktur, die in das Berliner Mobilitätsgesetz aufgenommen wurde. Wegner und Schreiner wollen das alles über Bord werfen und zur »autogerechten Stadt« der 1950er Jahre zurückkehren. Ragnhild Sørensen von der Nichtregierungsorganisation Changing Cities sagte mir dazu: »Für Schulkinder, ältere Menschen und alle, die nicht mit dem Auto unterwegs sind: Ihre Sicherheit ist jetzt weniger wert als ein Parkplatz.«
Darf der Senat das überhaupt? Wie »nd« berichtete, hält das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg diese spontanen Änderungen am Berliner Haushalt für rechtswidrig. In dieser Stadt sind die Bezirke für die meisten Straßen zuständig, bekommen aber Geld von der Stadt – und das wird nun »vorübergehend« ausgesetzt.
Schreiner, die wie Wegner Mitglied der konservativen CDU ist, hat ihre gesamte Karriere als Lobbyistin für die deutsche Industrie und Immobilienspekulanten verbracht. Sie ist immer noch eine Lobbyistin für das fossile Kapital, aber jetzt mit einem Regierungsposten. Einige werden behaupten, dies sei Demokratie am Werk. Bei den Wahlen im letzten September hat die CDU mit nur 28,2 Prozent der Stimmen »gewonnen«. Zählt man die Nichtwähler*innen und Wahlverweiger*innen mit, so haben nur 13,6 Prozent die Konservativen gewählt. Eine*r von sieben Berliner*innen ist nicht gerade ein Mandat, um die Stadt zum Wackeln zu bringen.
Die CDU bekommt ihre Stimmen von der Peripherie Berlins – unsere Stadt ist ein schwarzer Ring um einen grünen Kern. Die Menschen, die in den Vororten in endlosen Reihen von Einfamilienhäusern mit Doppelgaragen leben, wollen so schnell wie möglich an den ärmeren Menschen in der Innenstadt vorbeikommen, auch wenn das bedeutet, dass sie ein oder zwei nicht-weiße Kinder überfahren.
Vielleicht ist Berlin einfach zu groß. Es ist ein riesiges Gebiet, neunmal größer als Paris. Wenn Berlin wie Paris aufgebaut wäre, läge die Stadtgrenze direkt außerhalb des S-Bahn-Rings. Wir hätten einen grünen Bürgermeister und überall Fahrräder. Stattdessen kommt unser neuer Bürgermeister aus Kladow – einem winzigen Dorf, das durch ein großes Gewässer von Berlin getrennt ist. Kladow scheint ganz nett zu sein, aber es fühlt sich nicht demokratisch an, wenn autobesessene Dorfbewohner*innen über die Verkehrspolitik in unserem dichten Stadtkern entscheiden.
Das ist kein Grund, die Hoffnung aufzugeben! Berlin kann immer noch eine moderne Stadt werden, die für Menschen und nicht für Autos gebaut wird. Wir werden die CDU, den politischen Arm der Autoindustrie, nicht überzeugen. Aber seit 50 Jahren protestieren die Berliner*innen gegen Autobahnen und besetzen Baustellen. Es ist diesen Protesten zu verdanken, dass der größte Teil von Kreuzberg 36 nicht abgerissen wurde, um Platz für Autobahnen zu schaffen. Mit genügend Radikalität können wir die Regierung dazu zwingen, die Fahrradinfrastruktur zu schaffen, die wir brauchen.
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