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Messerangriff in Neukölln: Opfer macht Polizei Vorwürfe
Im Januar wurde Nayla P. in Neukölln mit zwölf Messerstichen niedergestochen, nun macht sie Polizei und Staatsanwaltschaft Vorwürfe
Nayla P. kommt zu spät. »Sorry, aber die M10 hatte 18 Minuten Verspätung«, sagt sie auf Englisch und schenkt sich ein Glas Wasser ein. Eine Stunde hat sie von Spandau nach Friedrichshain gebraucht, in das Büro der Opferberatungsstelle Reachout. Würde sie noch in Neukölln wohnen, wäre der Weg nur halb so lang. Doch nach Neukölln geht Nayla nur noch selten.
Nayla ist 26 Jahre alt, in Tunesien geboren, lebt seit eineinhalb Jahren in Berlin und möchte nur unter Pseudonym in der Zeitung stehen. Was ihr zugestoßen ist, klingt nach schlechtem Krimi, furchtbar und unglaublich, aber wahr: Am 28. Januar stach ein Unbekannter sie tagsüber und auf offener Straße nieder.
Die junge Frau hat ihre Geschichte schon oft erzählt. Routiniert spult sie ihre Erinnerung ab: »Es war ein Samstag. Ich bin zum Friseur gegangen, weil ich meine Haare selbst doof geschnitten hatte. Sie sagten natürlich, sie können meine Haare nicht schneiden, weil ich keinen Termin habe.« Sie geht zurück nach Hause, in die Schierker Straße, die von der Hermannstraße abzweigt. Es ist 12 Uhr mittags. »Er kam von hinten, als ich gerade die Haustür öffnete.« Der Unbekannte greift Nayla, dreht sie zu sich und sticht auf sie ein. »Zwölf Mal. Aber das wurde mir danach gesagt. Als ich abgestochen wurde, habe ich offensichtlich nicht mitgezählt.«
Nayla liegt zwei Wochen im Krankenhaus. Sie verliert einen Teil ihrer verletzten Lunge. Aber sie überlebt. Ein halbes Jahr später verdecken ihre dunklen Locken die Narben von der Stirn bis zum Ohr, wo der Täter sie mehrmals mit dem Messer verletzte. Seit dem Angriff geht sie zur Psychotherapie.
Nur gefährliche Körperverletzung?
Nicht nur das Erlebte macht ihr zu schaffen – sie fühlt sich auch von der Polizei im Stich gelassen. Denn es fehlt jede Spur vom Täter. In Naylas Augen liegt das an der zuständigen Ermittlungsbehörde, vor allem aber an dem Tatvorwurf. Ermittelt wird nicht wegen versuchten Mordes, sondern wegen gefährlicher Körperverletzung. Deshalb ist nicht das auf Tötungsdelikte spezialisierte Landeskriminalamt für die Ermittlungen zuständig, sondern die Direktion 5 der Berliner Polizei.
Ein versuchter Mord liegt vor, wenn die Tat heimtückisch geschah und zum Ziel den Tod des Opfers hatte. Wenn der oder die Täter*in jedoch von diesem Ziel abrückt, das Opfer also am Leben lässt, obwohl die Tötung noch möglich gewesen wäre, hat man es mit einem »strafbefreienden Rücktritt« zu tun. Aus versuchter Tötung oder versuchtem Mord wird dann gefährliche Körperverletzung.
Zu dieser Bewertung kommt die Berliner Staatsanwaltschaft in Naylas Fall – weil sich der Täter nach zwölf Stichen abwandte und wegrannte. Nayla kann das nicht nachvollziehen. Sie rekonstruiert den Angriff: »Als er mir in die Lunge gestochen hat, bin ich zu Boden gefallen und ich habe ihn dann mit meinen Füßen weggestoßen. Da hat er mir noch ins Bein gestochen.« Für sie ein Beweis, dass der Täter eigentlich ein weiteres Mal auf ihren Oberkörper zielte. »Hätte ich mich nicht verteidigt, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.« Naylas Anwältin Linh Steffen sieht das genauso: »Zwölf Stiche sprechen so stark für einen Tötungsvorsatz. Ich finde, das gesamte Tatbild eignet sich nicht dafür, ohne weiteres von einem strafbefreienden Rücktritt auszugehen.«
Vier Monate bis zum ersten Bild
Doch die Staatsanwaltschaft ordnete den Fall lediglich als gefährliche Körperverletzung ein und übergab die Ermittlungen deshalb an die Direktion 5 – den Polizeiabschnitt, der für Friedrichshain-Kreuzberg, Nord-Neukölln, und den Ortsteil Mitte in Mitte zuständig ist, ein Gebiet mit ungefähr so vielen Einwohner*innen wie Bremen. »Das ist keine Mordkommission«, betont Steffen. »Die haben einfach nicht dieselben Mittel wie das LKA.«
Damit erklärt sie sich das Vorgehen der Ermittlungsbehörde. So wurden anscheinend nicht sofort die Aufnahmen von Überwachungskameras der anliegenden Geschäfte ausgewertet. »Bei der Mordkommission hat das mitunter höchste Priorität und wird vermutlich noch am selben Tag gemacht. Eine Direktion ist da einfach schlechter aufgestellt.« Stattdessen veröffentlichten die Ermittler*innen Mitte Mai, fast vier Monate später, ein Bild aus einem Überwachungsvideo, das den Tatverdächtigen vom Hals abwärts zeigt. »Es hätten sicherlich mehr Menschen dieses Bild zur Kenntnis genommen, wenn es näher am Tatzeitpunkt veröffentlicht worden wäre«, sagt Steffen.
Stattdessen fehlen weiterhin jegliche Hinweise. Nayla macht das fassungslos. »Anscheinend kannst du in Berlin jemanden einfach so abstechen und damit davonkommen.« Sie selbst hat den Täter als Mann identifiziert. Weil er eine medizinische Maske trug, kann sie nicht mehr zu seinem Aussehen sagen. »Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde ermitteln, dann würde ich mir alle Überwachungsvideos der angrenzenden Straßen anschauen. Und dadurch sehen, wo er hingerannt ist.« Dass ihr Angreifer frei herumläuft, beeinträchtigt ihr Leben. Sie halte sich nicht mehr in Neukölln auf, erzählt sie. Ihre WG in der Schierker Straße musste sie verlassen, derzeit wohnt sie in Spandau und sucht nach einer langfristigen Bleibe. »Es fühlt sich surreal an, wie in einem Film, so, als dürfte das alles in Wirklichkeit gar nicht so sein«, sagt sie.
Sie vermutet, dass die Ermittler*innen ihren Fall nicht ernst genug nehmen. »Ich bin ein Niemand, es sähe bestimmt anders aus, wenn das Opfer ein reicher Unternehmer oder eine Politikerin wäre.« Zudem hätten die Polizist*innen sich ihrer Meinung nach viel zu sehr auf zwei Aspekte in ihrem Leben fokussiert: Drogen und Sexarbeit. Nayla hatte sich hin und wieder Gras bei örtlichen Dealern geholt und außerdem mit Sexarbeit Geld dazuverdient. Besonders auf die Drogen sei eine Polizeibeamtin immer wieder zu sprechen gekommen. »Sie hat mich ganz erstaunt gefragt, warum ich nicht genau wüsste, wer mir das Gras verkauft. So, als wäre ich selbst schuld. Aber niemand wird wegen Graskaufens abgestochen.« Im Hinblick auf eine politische Motivation hätten die Ermittler*innen sie hingegen nicht befragt.
Mehrere Male empfindet sie den Umgang der Ermittler*innen als unsensibel. So sei sie etwa von der Polizeidirektion angerufen und gebeten worden, dringend vorbeizukommen, als sie noch schwer verletzt im Krankenhaus lag. Der ursprünglichen Bitte, Anfragen über die Anwältin laufen zu lassen, seien die zuständigen Beamt*innen nicht nachgekommen. »Ich konnte kaum laufen und habe mir ein Uber bestellt, um zur Polizei zu fahren«, erinnert sich Nayla. Vor Ort habe sich der Anlass zudem als nicht sonderlich dringend herausgestellt. »Ich dachte, ich müsste vielleicht den Täter identifizieren, aber sie hatten gar keine Beweise in der Hand.«
Linh Steffen bringt ein weiteres Beispiel: Die Ermittler*innen hätten ihr zuerst nicht erlaubt, bei der Befragung ihrer Mandantin Notizen zu machen – gang und gäbe in der Zusammenarbeit mit dem LKA. »Das zeigt einfach, wie unangemessen das war, den Fall nicht beim LKA anzusiedeln«, sagt die Strafrechtsanwältin, die oft Betroffene von Straftaten vertritt.
Kein Vertrauen in die Ermittlungen
Dass in anderen Fällen mit ähnlichem Tathergang durchaus wegen versuchten Totschlags oder Mordes ermittelt wird, zeigt der Angriff auf zwei Schülerinnen der Evangelischen Grundschule Neukölln Anfang Mai. Da hatte ebenfalls ein Mann unvermittelt auf seine Opfer eingestochen. »Dort haben sie alle Mittel aufgefahren, was vollkommen richtig war«, sagt Steffen. Die unterschiedliche Bewertung erklärt sie sich mit dem öffentlichen Interesse. »Nachvollziehbarerweise gibt es bei Kindern einen erhöhten Druck. Aber wir haben hier eine Woman of Color, eine queere Person, die gesellschaftlich gesehen auch schutzbedürftig ist. Da sollte ein öffentliches Interesse an der Aufklärung bestehen.«
Der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Sebastian Büchner, weist die Vorwürfe zurück. Zum einen müsste die staatsanwaltliche Bewertung dem Zweifelsgrundsatz folgen. Wenn es also Hinweise für einen »Rücktritt« von dem Tötungsziel gibt, müsste erst einmal davon ausgegangen werden. »Das ist eine Art Vorprognose, aber das kann sich vor Gericht immer noch ändern.« Der gesetzlich verankerte »Rücktritt« solle als »goldene Brücke« funktionieren: Wenn ein*e Täter*in sich doch noch gegen den Tatvollzug, also gegen die Tötung, entscheidet, sollte sich das im Strafmaß widerspiegeln. »Damit der Täter nicht denkt, jetzt ist sowieso alles egal, dann kann ich die Person auch umbringen.« Nachteile für Betroffene entstünden daraus seiner Meinung nach nicht, denn das »Ermittlungsinstrumentarium« bliebe dasselbe.
Steffen widerspricht. Bei »schweren Taten« oder »Straftaten von erheblicher Bedeutung«, was bei versuchtem Mord oder versuchtem Totschlag regelmäßig angenommen werde, gebe es etwa die Möglichkeit der Telekommunikationsüberwachung, der DNA-Identitätsfeststellung oder der Rasterfahndung. »Ich möchte mir nicht anmaßen zu bewerten, welche konkrete Ermittlungsmaßnahme versäumt wurde. Ich sage nur, dass es unnötig und überaus unglücklich war, sich die Möglichkeiten einer gründlichen Ermittlung zu einem so frühen Zeitpunkt abzuschneiden.«
Nayla nimmt das Beratungsangebot der Opferberatungsstelle Reachout in Anspruch. Mit deren Unterstützung will sie bei der Polizeipräsidentin Beschwerde einreichen. Parto Tavangar von Reachout hofft, dass dadurch der Tatvorwurf zu versuchtem Mord geändert werden könnte. »Uns geht es auch darum, die Polizei dazu zu bringen, sich erklären zu müssen«, sagt Tavangar. Nayla selbst glaubt nicht mehr wirklich an erfolgreiche Ermittlungen: »Ich hatte schon früher kein großes Vertrauen in die Polizei, aber jetzt bin ich hundert Prozent frustriert.« Die möglichen Versäumnisse der Polizei wertet sie als Zeichen, dass die Prioritäten der Sicherheitsbehörden nicht auf dem Schutz von Menschen wie ihr liegen. »Sie finden Leute, die Graffiti malen oder anarchistische Flyer verteilen, weil die eine Bedrohung für den Staat darstellen. Aber mein Täter ist nur eine Bedrohung für mich.«
Auch die Anwältin macht sich keine großen Hoffnungen. »Wenn wir Glück haben, wird irgendwo vermerkt, dass es ein potenziell queerfeindlicher, sexarbeiterfeindlicher und rassistischer Vorfall war.« Das erlaube eine Einordnung für etwaige zukünftige Fälle. »Im schlimmsten Fall wird nicht einmal das gemacht und es geht komplett unter.«
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