- Berlin
- Schulplatzmangel in Berlin
CDU macht große Hofpause
Lichtenbergs neue Bezirksstadträtin stoppt die Planungen für einen Modularen Ergänzungsbau auf dem Hof der Obersee-Schule
Die Versorgung mit Schulplätzen sei eine Vollkatastrophe, sagt Anne Hausen, die Gesamtelternvertreterin der Brodowin-Schule, einer Grundschule mit fast 700 Kindern in Alt-Hohenschönhausen. Jahr für Jahr ziehen mehr junge Familien in den Lichtenberger Ortsteil, neue Wohnquartiere werden geplant und hochgezogen. Alles schön und gut, sagt die Mutter von zwei Kindern zu »nd«. Aber in der Klasse ihrer Tochter an der »Brodowin« saßen jetzt schon 24 Kinder. »Im kommenden Schuljahr werden es 28 sein. Dann werden auch die letzten Horträume in Klassenzimmer umgewandelt.« Nicht anders sehe es bei fast allen anderen Grundschulen im Kiez aus. »Das platzt einfach aus allen Nähten.«
Um die Lage wenigstens etwas zu entschärfen, müssten schleunigst neue Grundschulplätze geschaffen werden, und zwar über die Errichtung eines sogenannten Modularen Ergänzungsbaus, kurz: MEB, auf dem Schulhof der Obersee-Schule an der nahen Roedernstraße. Die sei als einzige nicht so überlaufen wie die anderen Grundschulen in Alt-Hohenschönhausen, der MEB könnte in einem Jahr errichtet werden, rund 220 Kinder hätten einen neuen Schulplatz.
»Der MEB wäre eine schnelle Entlastung.« Davon ist Hausen überzeugt. Davon sind auch SPD, Grüne und Die Linke in Lichtenberg überzeugt. Zumal die Planungen für den MEB weit gediehen sind. Rein theoretisch könnte noch im laufenden Jahr mit dem Bau begonnen werden. Das Projekt steht mit fast zehn Millionen Euro in der Investitionsplanung des Landes Berlin. Die Finanzierung ist also gesichert.
Allein, an der in einem von Einfamilienhäusern geprägten Viertel gelegenen Obersee-Schule wehrt man sich seit Jahren mit Händen und Füßen gegen den 2020 erstmals konkretisierten Plan, auf ihrem 6200 Quadratmeter großen Schulhof einen zusätzlichen Schnellbau hinzuklotzen. Und die Schule hat die CDU im Bezirk auf ihrer Seite. Eine der ersten Handlungen der nach der Wiederholungswahl im Februar ins Amt gewählten neuen CDU-Schulstadträtin Catrin Gocksch war es dann auch, die entsprechenden MEB-Planungen ihrer Grünen-Vorgängerin Filiz Keküllüoğlu zu stoppen. Oder, wie Gocksch es in einer BVV-Sitzung Mitte Juni genannt hat: den Standort Obersee-Schule zu »überprüfen«.
»Das erinnert irgendwie an die Politik der neuen Verkehrssenatorin«, sagt die Linke-Bezirksverordnete Claudia Engelmann zu »nd«. Berlins CDU-Verkehrssenatorin Manja Schreiner »überprüfe« die Radwege-Vorhaben, Lichtenbergs CDU-Schulstadträtin Catrin Gocksch den MEB auf dem Hof der Obersee-Schule. Beides laufe auf das Gleiche hinaus: Bereits durchgeplante Projekte sollen beerdigt werden. »Das ist eine rein politische CDU-Nummer. Die wollen den MEB abräumen«, sagt Engelmann. Und: »Mein Eindruck ist, die prüfen da überhaupt nichts.«
Natürlich wird geprüft, heißt es dagegen von Catrin Gocksch. Die CDU-Politikerin sagt zu »nd«: »Ich habe im April dieses Jahres das Amt als Bezirksstadträtin für Bildung in Lichtenberg übernommen. Im Rahmen dessen ist es meine Aufgabe und meine Pflicht, mir ein Bild über die geplanten Maßnahmen in unserem Bezirk zu machen.« In diesem Zusammenhang überprüfe sie auch das MEB-Projekt an der Obersee-Grundschule auf Bedarf, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit. Eine Art große Hofpause also.
»Jede Planung muss auf Sinn und Auswirkung überprüft werden können. Insofern begrüßen wir den Ansatz der neuen Schulstadträtin sehr«, sagt dazu Patrick Schlöffel vom Förderverein der Obersee-Schule, der vielleicht lautesten Stimme gegen die MEB-Planungen. Beharrlich und immer wieder aufs Neue weist der Verein darauf hin, dass der Schulhof der Obersse-Schule der falsche Standort sei für den Ergänzungsbau.
Schlöffel argumentiert, dass die auf 360 Plätze ausgelegte Grundschule mit nun bald 420 Schülern keineswegs so unterbelegt sei, wie es immer dargestellt wird. Mit dem MEB, so Schlöffel, kämen zudem vermutlich weit mehr als die angekündigten 220 Kinder hinzu. Er rechnet damit, dass die Gesamtschülerzahl mit dem MEB auf rund 700 steigen wird.
Im Gegenzug würden gut 1000 Quadratmeter des Schulhofs bebaut, die vorhandenen Freiflächen drastisch schrumpfen. Schlöffel sagt zu »nd«: »Die Erfahrung an anderen Schulen zeigt, dass derart reduzierte Freiflächen je Kind zu einem signifikanten Anstieg von Konflikten und Unfällen führen, abgesehen vom fehlenden Erholungseffekt für die Kinder.«
Schließlich ist da noch die Sache mit den Prognosen. Denn der Streit um die Obersee-Schule ist auch ein Kampf um Zahlen. Grüne und Linke verweisen darauf, dass in den kommenden zwei Jahren in Alt-Hohenschönhausen rund 450 Grundschulplätze fehlen werden. Die CDU-Bezirksstadträtin spricht von Defiziten »zwischen einem und eineinhalb Zügen«, also zwischen rund 150 und 220 Plätzen, die vor allem aufgrund von Zuzügen bestehen »könnten«. Die inzwischen ebenfalls CDU-geführte Senatsbildungsverwaltung wirft zusätzlich eine neue Prognose bis 2040 in den Ring, derzufolge »die altersrelevante Bevölkerungsgruppe der Sechs- bis unter Zwölfjährigen« bis dahin um 652 Kinder steigt. Was freilich wenig aussagt über die Entwicklung in naher Zukunft.
Martin Pätzold von der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus baut trotzdem auf die Senatszahlen. Alt-Hohenschönhausen ist sein Wahlkreis, sowohl 2021 als auch 2023 hat er ihn direkt gewonnen, zuletzt haushoch. Seit seinem Einzug ins Landesparlament stellt Pätzold Schriftliche Anfragen an die Bildungsverwaltung zum MEB-Standort. Die Richtung ist klar: »Schulhof der Obersee-Schule nicht bebauen«, war bereits seine erste Anfrage im November 2021 überschrieben.
Die Frage sei doch, wo was gebraucht wird, sagt Martin Pätzold zu »nd«. »Wir haben jetzt das erste Mal neue Prognosezahlen zur Entwicklung der Schülerzahlen bis 2040, die sich eben anders darstellen als in der Vergangenheit.« Die Bezirksstadträtin lege ja nicht die Hände in den Schoß. »Frau Gocksch prüft die Zahlen und arbeitet an einer Lösung. Aber diese Lösung muss nicht der MEB sein.«
Pätzold, der im benachbarten Neu-Hohenschönhausen aufgewachsen ist, berichtet davon, welche Entwicklungen Lichtenberg hinter sich hat, erst der jahrelange Rückgang der Bevölkerungszahl, dann der immer stärker werdende Zuzug. »Ich habe gesehen, wie meine Schule und meine Kita abgerissen wurden. Das war nicht gut. Aber ich glaube, dass wir den umgedrehten Fehler machen, wenn wir beginnen, die Höfe zuzubauen.«
Grüne Innenhöfe müssen grün bleiben – dafür mache er sich stark, sagt Pätzold. Auch an der Obersee-Schule. In der von der Grünen Liga herausgegebenen Umweltzeitung »Der Rabe Ralf« war zuletzt die Rede von »56 großen Bäumen«, die dem MEB weichen müssten, »darunter 18 Linden, die schon 110 Jahre alt« sind. Das Bezirksamt sprach im vergangenen Jahr lediglich von »einigen« zu fällenden Bäumen, für die »Ersatzpflanzungen an anderer Stelle vorgenommen« würden.
Mein Freund, der Baum: Wie im Schlager geben auch an der Obersee-Schule die angedrohten Fällungen der Angelegenheit noch einmal einen besonderen Schuss Melodramatik. Martin Pätzold sagt: »Der MEB ist schnell hochgezogen, die Bäume sind für immer weg.« Auch deshalb halte er den Bau auf dem Schulhofgelände für eine Fehlplanung.
Und dann? Schulstadträtin Catrin Gocksch bleibt auf Nachfrage vage, wie man im Bezirk nun mit der massiven Überbelegung umgehen will. Es gebe »verschiedene Lösungsansätze, um das Problem des mangelnden Schulplatzangebots in der Primarstufe anzugehen«. Dazu gehörten auch alternative Standorte für den MEB. Die CDU-Politikerin versichert dabei: »Der Modulare Ergänzungsbau für unseren Bezirk wird kommen. Gerade dort, wo er am nötigsten ist.«
Da braucht die Stadträtin gar nicht lange suchen und prüfen, sagt Linke-Politikerin Claudia Engelmann. »Wer nicht erkennen will, dass es einen riesigen Zuzug von Familien nach Alt-Hohenschöhausen gibt, lügt sich in die eigene Tasche. Selbst der MEB an der Obersee-Schule wird nicht ausreichen, um die Gesamtsituation im Ortsteil in den Griff zu bekommen.«
Elternvertreterin Anne Hausen sieht das genauso. Sie hat sich nach der Ankündigung der Stadträtin, den Entlastungsstandort Obersee-Schule überprüfen zu wollen, mit anderen Leidgeprüften der Brodowin-Schule wie auch der der ebenfalls überbelegten Schule am Wilhelmsberg und der nicht weniger vollgelaufenen Orankesee-Schule zu einem Bündnis zusammengeschlossen und eine Online-Petition gestartet, um Druck aufzubauen.
»Es geht uns nicht gegen die Obersee-Schule. Ich verstehe deren Argumente«, sagt Hausen. Aber alle Alternativen für einen Standort seien in der Vergangenheit bereits geprüft worden, auch wenn die Schulstadträtin nun alles noch einmal prüfen will. »Im Grunde wäre es mir doch total wurst, wo der MEB gebaut wird. Alles, was wir uns für unsere Kinder wünschen, ist endlich eine schnelle Entlastung.«
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