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  • Bildung und Herrschaft

Rebellen aus freien Stücken

Während Schulen real die Klassenherrschaft legitimieren, lässt sich mit Franciso Ferrer, Siegfried Bernfeld und Wilhelm von Humboldt eine emanzipatorische Erziehung denken

  • Gesa Foken und Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 6 Min.
Wie kann es gelingen, dass Bildung eher Entfaltung als Repression bedeutet?
Wie kann es gelingen, dass Bildung eher Entfaltung als Repression bedeutet?

Gegenwärtig bringt künstliche Intelligenz den Schulalltag durcheinander – so sehr, dass der bayerische Lehrer*innenverband dafür plädiert, das Schulsystem zu reformieren und Noten abzuschaffen. Radikal wäre das allerdings noch lange nicht.

»›Erziehung‹ bedeutet in der Praxis Beherrschung oder Versklavung«, schrieb indes der libertäre Anarchist Francisco Ferrer, der 1909 unter rechtswidrigen Umständen zum Tode verurteilt wurde. Im anarchistischen Diskurs über Erziehung wurde Kants Annahme, dass »man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne«, fundamental bestritten.

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Die Praxis der religionskritischen Modernen Schule Ferrers zeigte, dass eine Schule »ohne Lohn noch Strafe« möglich ist. Ferrer setzte wie die Psychoanalytikerin Alice Miller (an die wir auf diesen Seiten in der vorigen Woche erinnerten) auf die Kreativität, Wissensfreude und Lebendigkeit von Heranwachsenden. Wie Miller war er fundamental erziehungskritisch. Als libertärer Revolutionär strebte er keine Erziehung von Kindern zu zukünftigen Revolutionären an; er wollte die Entwicklung von »Menschen« ermöglichen, die später aus freien Stücken »Rebellen« würden – oder eben auch nicht.

Denkbar wäre also, Ferrers pädagogischen Ansatz als Postulat für Bildung und gegen Erziehung zu fassen. Naturbeherrschung ist im Programm der Erziehung repressiv, denn sie ist auf Ein- und Unterordnung des Individuums in eine unfreie Sozialität aus. Vernunftbetätigung ist im Programm der Bildung emanzipativ; sie steht zwar im Kontinuum von Herrschaft, zielt aber auf deren kritische Selbstreflexion.

Der innere Widerspruch

Dem Programm der Erziehung ist gleichwohl ein innerer Widerspruch eingeschrieben. Denn die Bedingungen der Möglichkeit, um Individuen ein- und unterzuordnen, versetzen diese auch grundsätzlich in die Lage, der Unterordnung zu widerstehen. Der Darmstädter Bildungswissenschaftler Gernot Koneffke hat den Widerspruch der Pädagogik als Gleichzeitigkeit von »Integration und Subversion« bezeichnet. Dem Programm der Bildung ist ebenfalls ein innerer Widerspruch eingeschrieben: In den Institutionen des Bildungswesens der unfreien Gesellschaft regeln potenziell befreiende Formen und Inhalte die Selektion des Zugangs zu Privilegien. Der Frankfurter Bildungsphilosoph Heinz-Joachim Heydorn hat das den »Widerspruch von Bildung und Herrschaft« genannt.

Dass Erziehung nicht nur im Sinne einer Anpassung an das Realitätsprinzip, sondern ganz im Sinne der Aggressionsabfuhr eigener verdrängter Erniedrigungen erfolgt, hat – vergleichbar mit Miller – auch Siegfried Bernfeld hervorgehoben. Die Thesen des vor 70 Jahren gestorbenen marxistischen Psychoanalytikers und Erziehungspraktikers stützen Millers Ansicht von Erziehung als »verborgener Machtausübung« sowohl individuell – in seiner Charakterisierung des »Erziehers« (1927) – als auch gesellschaftlich: Die Funktion von Erziehung bestehe darin, die materielle und kulturelle Erhaltung der Gesellschaft durch individuelle wie kollektiv-institutionelle Reaktionen auf die Tatsache zu sichern, dass Heranwachsende sich entwickeln. In der kapitalistischen Klassengesellschaft ist Erziehung – so Bernfeld in »Sysiphos oder die Grenzen der Erziehung« (1925) – »durch Herrschaftsverhältnisse bestimmt«, weil sie die »Macht der herrschenden Klasse zu sichern« hat. Sie ist der Tendenz nach konservativ. Innerhalb der Struktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft kann Erziehung nicht umwälzend und befreiend sein, das könnte sie erst als sozialistische.

Indem Bernfeld Pädagogik weniger durch ihre eigenen Prämissen denn durch Politik bestimmt sah, hatte er die Hoffnung, dass die Unterstützung der Jugend in einer veränderten Gesellschaft anders aussehen könne. Sein Versuch, ab 1919 im legendären »Kinderheim Baumgarten«, das er selbst gegründet hatte, nicht nur elementare Hilfe für Waisen zu leisten, sondern Heranwachsen zwanglos zu gestalten, gehört zu den Orientierungspunkten der Reformpädagogik. Es wurde aber schon 1920 durch verwaltungstechnische Entscheidungen unmöglich gemacht. Damit steht Bernfelds Bemühen in der tragischen Traditionslinie herrschaftskritischer Schulprojekte, die nicht lange genug bestehen durften, um die von ihnen ausgehende Wirkung zu bekräftigen.

Bildung und Herrschaft

Mit Erstaunen findet man heute in frühen Texten der Bildungspolitik Wilhelm von Humboldts Überzeugung, dass sowohl Latein und Griechisch als auch handwerkliche Kenntnisse für alle Heranwachsenden von Bedeutung seien und eine Trennung von Schultypen daher sinnlos ist. Gegenüber Bildungskonzepten von Humboldt bis Ferrer, die Selbsttätigkeit und Rezeptivität zusammendenken und soziale Spaltung ablehnen, erschien die deutsche Bildungslandschaft schon vor Jahrzehnten vorsintflutlich. Hochproblematisch ist allerdings ein schulisches Bildungswesen, das angesichts der proklamierten »Wissensgesellschaft« nur noch das Abitur als erfolgversprechenden Abschluss bereithält und zugleich einen Großteil der Heranwachsenden frühzeitig davon ausschließt. Damit ist die Mehrzahl aller Kinder bereits ab Klasse 5 (immer seltener ab Klasse 7) in eine Einrichtung verwiesen, die ihnen den Zugang zu angestrebten Privilegien von Grund auf verwehrt. Die potentiell befreienden Formen der Bildung werden auf den gesellschaftlichen Abstellgleisen zur Farce. Schüler*innen spüren, dass ihnen Chancen frühzeitig genommen sind, und erkennen, dass die sogenannte Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems nur auf dem Papier besteht. Ihnen geschieht genau das, was Alice Miller als Manipulation bezeichnete. Im Sinne der Institution Schule darf ihre Erfahrung der Sinnlosigkeit nicht sein, sie wird als eingebildet, also ver-rückt gekennzeichnet. Zugleich müssen auch Pädagog*innen sich um selbstkonditionierende Maßnahmen bemühen, angesichts der Widersprüche gegenwärtiger Bildungsmisere nicht aufzugeben. Damit ist im gegenwärtigen Schulsystem der am Humanismus gebildete Anspruch auf (Selbst-)Bildung ausgehöhlt; es bringt Erziehungsanstalten zur Anpassung an die herrschenden Verhältnisse hervor. Kein Wunder, dass realitätstüchtige Lehrerinnen und Lehrer erneut nach Zwangsmaßnahmen suchen, Lernende zur Raison zu bringen.

Kritische Theorie der Bildung

Im dialektischen Begriff von Bildung wird die Selbstbestimmung der Subjekte im Horizont einer gesellschaftlichen Selbstbestimmung aller konzipiert. Bildung ist dann die kritische Reflexion auf das Potenzial gesellschaftlich-praktischer Vernunft. In den gegenwärtigen Debatten über institutionelle Bildung und Erziehung ist dieser alles entscheidende Aspekt jedoch verschüttet. Das Ideal der Mündigkeit, das Adorno in den 1960er Jahren immanent-kritisch rekonstruiert hat, fungiert längst als Leitmotiv in der Legitimationserzählung der demokratisch verwalteten, neoliberalen Klassenherrschaft.

Die »Bildungsgeschichte« ist aus dieser Perspektive »von Beginn an Herrschaftsgeschichte, Herrschaft über die Natur und im Verbund damit auch die von Menschen über Menschen«, betont der Erziehungswissenschaftler Peter Euler. »Allerdings – und das ist die Pointe in dieser Theorie – resultiert die Herrschaft aus der gewonnenen Unabhängigkeit von Natur, aus Bildung eben. Herrschaft verdankt sich also der Freiheit, die sie zugleich wieder storniert«. Die Verewigung von Herrschaft via Verinnerlichung von Zwang und Identifikation mit sublimierter und struktureller Gewalt ist aber das Gegenteil des fortschrittlichen Gehalts, der in jenem Programm steckte. In der Neuzeit ist daran gearbeitet worden, die Funktion der Philosophie für das praktische Interesse der Individuen an Selbstreflexion und Selbstbestimmung zu begreifen. In diesem Diskurs sind Autonomie, Bildung, Emanzipation und Mündigkeit die zentralen Konzepte. Wichtige Stationen dieser Arbeit am Begriff waren, neben Adornos Konzept einer »Erziehung zur Mündigkeit«, Kants Programm vernünftiger Selbstbestimmung und Hegels Begriff der Bildung als »Befreiung zur Sittlichkeit«. Desgleichen Marx’ Vorstellung, dass die »Erziehung der Zukunft«, die aus dem industriellen »Fabriksystem« hervorging, »nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen« gedacht ist.

Heute haben »post-kritische« Diskurse in der Erziehungswissenschaft Konjunktur, die sich an Michel Foucaults und Judith Butlers Dekonstruktion des Begriffs vernünftiger Autonomie individueller Subjektivität anschließen. Das Konzept einer befreiten, das heißt klassenlosen Gesellschaft, die ihre Auseinandersetzung mit der Natur wie ein selbstbestimmtes Gattungs-Subjekt angehen könnte, solidarisch und respektvoll, rückt aber in immer weitere Ferne, wenn der Begriff des Subjekts preisgegeben wird.

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