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Film »Brother’s Keeper«: Ein pädagogisches Horrorhaus
Im türkischen Drama »Brother’s Keeper« zeigt der Regisseur Ferit Karahan ein autoritäres Internat und dessen kindliche wie erwachsene Opfer
Das ostanatolische Internat für kurdische Jungen, in dem die Geschichte von Ferit Karahans Film »Brother’s Keeper« spielt, ist ein pädagogisches Horrorhaus, in dem ein brutales Unterordnungsregime, pseudo-militärische Disziplin und seitens der Pädagogen Willkür und in einigen Fällen auch nackte Gewalt herrschen. Inmitten dieser Atmosphäre der Angst, die auf den Kindern lastet, kümmert sich der 10-jährige Yusuf mit großer Zuneigung um seinen kranken Freund Memo – notwendigerweise, da es sonst niemand tut. Memo ist in einem halb bewusstlosen Zustand aufgewacht, spricht nicht, isst nicht, erbricht sich. Und weil sich von den Erwachsenen niemand dafür interessiert beziehungsweise den Ernst der Lage erkennt, schleppt Yusuf seinen Freund ins Krankenzimmer am anderen Ende des Schulgeländes.
Die Handlung von »Brother’s Keeper« entfaltet sich in drei recht klar voneinander getrennten Abschnitten. Zunächst muss Yusuf darum kämpfen, dass Memo überhaupt versorgt wird, der Argwohn der Erwachsenen, die Jungen wollten wohl nur einen Vorwand finden, die Schule zu schwänzen, muss überwunden werden. Bis das gelingt, erscheinen die Männer, die die Kinder unterrichten und beaufsichtigen, als bösartige Aufseher, die auch vor körperlicher Gewalt nicht zurückschrecken.
Im zweiten Teil – inzwischen werden die Erwachsenen nervös, da Memo auch nach mehreren Stunden und trotz einer verabreichten Aspirin nicht aufwacht und das Internat derart eingeschneit ist, dass man es auch motorisiert nicht verlassen kann und auch sonst keine Hilfe zu erwarten ist – entwickelt sich der Film zu einer fast kriminalistischen Suche nach Schuldigen für den rätselhaften Krankheitsfall. War es eine gute Idee, die Jungen wegen einer Nichtigkeit dazu zu zwingen, eiskalt zu duschen? Hätte der schlechte Zustand des Jungen früher gemeldet werden müssen? Ist das teilweise barbarische Bestrafungsregime, das von dem Schulleiter initiiert wird, Grund für die Zustände, die zu der misslichen Lage geführt haben? Und was sind das überhaupt für merkwürdige Symptome – schließlich hat der Junge, wie einer der herbeieilenden Pädagogen nach dem anderen feststellt, kein Fieber?!
Nach und nach wird auch klar, dass das Internatspersonal, das völlig überarbeitet und überfordert ist, selbst unter Druck steht. Aus nur brutalen Aufsehern werden Menschen mit Sorgen und Antrieben, nun in erster Linie mit dem Anliegen, sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen. Das macht sie nicht sympathischer, ihr Handeln aber doch zumindest verständlicher. Inszenatorisch ist das ebenfalls durchaus wirkungsvoll, Karahan kommt seinen SS-ähnlichen Wärterfiguren näher, leuchtet die Motivationen ihres Handelns etwas aus, zeigt sie als ebenfalls von den Umständen getriebene, sehr arme Würstchen. Entlastet werden sie dadurch aber nicht, insbesondere mit der letzten Einstellung des Films lässt Karahan keinerlei Zweifel an der Unbelehrbarkeit der handelnden Personen wie auch an der Lernunfähigkeit autoritärer pädagogischer Systeme insgesamt.
Der dritte Teil des Films schließlich klärt in einem kleinen Plot-Twist darüber auf, was es mit Memos Krankheit wirklich auf sich hat, welche Rolle die Erwachsenen dabei gespielt haben und welche die Kinder. Und die Frage nach Schuld und Verantwortung erscheint noch einmal aus einer neuen Perspektive, was aber letztlich nichts an dem Befund ändert, dass nämlich das intuitive Verhalten des Kindes verantwortungsvollem Handeln deutlich näherkommt als der alles determinierende, zum Prinzip erhobene und niederträchtige Argwohn der Erwachsenen.
Der Film basiert auf eigenen Erfahrungen des Regisseurs Ferit Karahan, der selbst »sechs Jahre wie die Kinder in dem Film an dieser Schule gelebt und gelernt« hat, wie er in einem den Film begleitenden Interview angibt. Umso erstaunlicher die große Reflektiertheit des Films, der es nicht bei einseitigen Schuldzuweisungen belässt, sondern bemüht ist, die strukturellen Ursachen für die konkrete Brutalität nicht nur in einer patriarchalen, militärisch-nationalistischen Schulorganisation zu suchen, sondern auch in den unmenschlichen gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt. In einer zentralen, herzzerreißenden und zugleich erhellenden Szene ruft der kleine Yusuf völlig verzweifelt seine Mutter an, in der Hoffnung auf zumindest etwas telefonisch übermittelte menschliche Wärme und Empathie oder auch nur einen guten Rat, erhält von ihr allerdings nur die Anweisung, er solle angesichts des Zustandes der Familie mit einem kranken, arbeitsunfähigen Vater und mehreren kleinen Geschwistern seinen kranken Freund einfach vergessen: »Du bist unsere einzige Hoffnung. Sei fleißig und lerne.« Die Härte der Menschen und ihr Mangel an Empathie sind, daran lässt der Film wenig Zweifel, Ergebnisse der Zurichtungen, die sie erfahren haben. Ursache ist nicht pure Bosheit, sondern eine Gesellschaft, die auf Konkurrenz und Vorteilsheischerei jedes einzelnen genauso gründet wie auf schlichter Ausbeutung. Die Kinder sind nichts weiter als Körper und Hirne, die ebenfalls dahingehend zuzurichten sind, dass sie schnellstmöglich in die wahnsinnige Maschinerie aus Wettkampf und mitleidloser Konkurrenz eintreten können. »Der Hass, den ich nicht loswurde, floss in jede Version des Drehbuchs ein und das verhinderte, dass es komplex und vielschichtig wurde. Danach begann ich über die Tatsache nachzudenken, dass auch die Lehrer Opfer des Systems waren«, erklärt Karahan. Und dieser Entwicklungsprozess, der schließlich zu der finalen Drehbuchversion führte, schlägt sich in dem Film durchaus sichtbar nieder und macht ihn zu einem klugen und einfühlsamen Werk und zu einem kleinen filmischen Highlight des bisherigen Kinojahres.
»Brother’s Keeper«, Türkei / Rumänien 2021. Regie: Ferit Karahan, Buch: Ferit Karahan, Gülistan Acet. Mit: Samet Yıldız, Ekin Koç, Mahir İpek, Melih Selçuk, Cansu Fırıncı, Nurullah Alaca. 85 Min. Start: 27. Juli.
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