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»Die Menschen fühlen sich in die Enge getrieben«

Der Anarchist Wjatscheslaw Asarow kritisiert den autoritären Kriegszustand in der Ukraine

  • Bernhard Clasen, Odessa
  • Lesedauer: 8 Min.
Im Krieg geht es oft ums Überleben. Viele Menschen in der Ukraine seien demoralisiert, meint Wjatscheslaw Asarow.
Im Krieg geht es oft ums Überleben. Viele Menschen in der Ukraine seien demoralisiert, meint Wjatscheslaw Asarow.

Sie sind ständiger Besucher des staatlichen Archivs im Gebiet Odessa. Was suchen Sie dort?

Ich bin auf der Suche nach Material für mein neues Buch zur Situation der Arbeiterklasse in der Zeit vor der Oktoberrevolution. Hier interessiert mich insbesondere die Anfangszeit des Ersten Weltkriegs. Damals wurden die Häfen von Odessa mit Kriegsbeginn blockiert. In der Folge stand die Hälfte der Fabriken still. Es herrschte eine große Arbeitslosigkeit. Viele landeten ganz unten, wurden zu Dieben und Bettlern. Viele hungerten. Genau für diese Gesellschaftsschicht interessiere ich mich, kommen doch aus ihr die aktiven, wenn auch nicht sehr professionellen Aufständischen und Revolutionäre. Diese Leute waren es, die auf den Barrikaden waren, die die Regierungsgebäude besetzten und eben die Revolution gemacht haben.

In welchem Zustand ist das Archiv?

Es stammt aus der Zeit der Sowjetunion und enthält viele Dokumente unterschiedlicher Behörden und Strukturen, darunter der Gendarmerie, von politischen Parteien, der Polizei, Gerichten, die Revolutionäre verurteilt haben. Die Dokumente sind aus der Zeit vor der Revolution und den ersten Jahren der Sowjetmacht. Besonders gut erhalten und ausführlich sind Dokumente vom Anfang des Jahrhunderts, so um das Jahr 1905 herum. Aber je mehr man an das Jahr 1917 herankommt und insbesondere 1917 selbst, umso größer werden die Lücken. Dies betrifft insbesondere Dokumente der Gerichtsmiliz der Übergangsregierung und Unterlagen zur politischen Polizei. Die Gerichtsmiliz ist eine Einrichtung, die es nur während der kurzen Unabhängigkeit der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg gab. Viele wichtige Dokumente dieser Zeit fehlen auch ganz.

Aber vieles konnten Sie finden?

Ja. Es gibt auch noch Dokumente von Revolutionären, die ihre Erinnerungen aufgeschrieben haben, über den Bürgerkrieg von 1917 bis 1918, als die Armee der ukrainischen Volksrepublik gegen russische und ukrainische Rote Garden kämpfte, über ihre Zeit im Untergrund und die Militärintervention von 1918 und 1919 (erst besetzten deutsche und österreichische Truppen große Teile der Ukraine, und nach deren Rückzug war ein Expeditionskorps von französischen und griechischen Soldaten in Odessa, Anm. d. Red).

Und welchen Einfluss haben Kriminelle auf die Revolution gehabt?

Vieles findet sich auch über die kriminelle Unterwelt von Odessa in diesem Archiv. Während des Bürgerkrieges waren viele Flüchtlinge aus Zentralrussland in der Stadt. Und es gab sehr starke Überschneidungen von kriminellem und revolutionärem Untergrund. In Odessa gab es ein Regiment, das 54. sowjetische Regiment, das von einem bekannten Kriminellen, Mischka Japontschik, angeführt wurde. Der hat natürlich seine Leute im Regiment gehabt, das waren Kämpfer, die aus der kriminellen Unterwelt kamen.

Viele Revolutionäre haben ihre Laufbahn mit »Expropriationen« (d.h. Enteignungen) begonnen, was damals eine Straftat war. Und dann haben sie im Untergrund eine wichtige Rolle gespielt, brauchte man doch für Untergrundarbeit, Aktionen und Terroranschläge gegen die weißen Offiziere erfahrene und gut vorbereitete Leute. Jemand, der sein Leben in der Fabrik gearbeitet hat, kann so was nicht machen.

Wie muss man sich diese Expropriationen vorstellen?

Diese Expropriationen, im revolutionären Jargon auch »Exi« genannt, sind bewaffneter Raub in Banken, Geschäften oder bei reichen Bourgois. Das erbeutete Geld hat man für die Revolution eingesetzt. Also man hat damit zum Beispiel Arbeiterkollektive unterstützt, Streiks bezahlt, Druckmaschinen gekauft, mit denen man verbotene Literatur gedruckt hat, Labors zum Herstellen von Sprengstoffbomben. Natürlich wurden diese Expropriationen in der zaristischen Rechtsprechung als Verbrechen bestraft.

Hatten die Bolschewisten im Raum Odessa viel Einfluss?

Die Stalin’sche Interpretation der Geschichte hat natürlich alles in ihrem Sinne ausgelegt. Das heißt, in ihrer Sichtweise haben die Bolschewisten die Hauptrolle in der Revolution gespielt. Tatsächlich begonnen haben sie hier im Süden aber im Wesentlichen die Sozialrevolutionäre und die Anarchisten und eben nicht die Bolschewisten (Die Partei der Sozialrevolutionäre war eine linke Partei in Russland, Anm.d. Red.).

1917 ging es um Eigentumsfragen. Deswegen war auch viel Gewalt dabei. Bei den aktuellen Veränderungen in der Ukraine seit 2014 stehen jedoch andere Dinge im Vordergrund. Bedeutet das, dass Gewalt keine Rolle spielt?

Nein, das ist nicht so. Die Frage einer Umverteilung von Eigentum hat beim Zusammenbruch der Sowjetunion eine wichtige Rolle gespielt und auch bei den Ereignissen auf dem Maidan. Die liberalen Reformen der postsowjetischen Zeit gingen einher mit überfallartigem Raub von Besitz, Diebstahl oder Betrug mit gefälschten Dokumenten. So hatte manch einer sich das ehemals sozialistische Eigentum angeeignet. Wenn ein politisches Regime, egal wo, mit Gewalt ausgewechselt wird, dann wirkt bei dieser Umverteilung immer auch die kriminelle Welt mit.

Ich hatte mich an mehreren Aktionen beteiligt, bei denen es um soziale Gerechtigkeit gegangen ist, wie Mieten, Kosten für Strom und Heizung. Und da haben uns Hooligans, die sich »Patrioten« nannten, mit Gewalt an den Aktionen gehindert. Deswegen will ich in der Ukraine keinen Umsturz, sondern eine soziale Revolution, die den Menschen maximale Autonomie auf kommunaler Ebene garantiert.

Das Leitbild der Maidan-Demonstrationen ist der Nationalist Stepan Bandera. Warum spielt eigentlich der Revolutionär Nestor Machno in der Ukraine heute keine Rolle?

Machno steht für eine Selbstorganisation der Gesellschaft, für Basisdemokratie. Ich denke mal, die Herrschenden wollen keinen Teil ihrer Macht an die Zivilgesellschaft abgeben. Und deswegen erwähnen sie Machno nicht.

Sie haben in der Vergangenheit viele politische Aktionen organisiert. Wie können Sie jetzt im Kriegsrecht arbeiten?

Versammlungen sind verboten, die meisten unserer Aktivisten in der gesamten Ukraine haben sich entschieden, sich nicht öffentlich als Anarchisten erkennen zu geben. Wenn man hier in der Ukraine etwas sagt, das nicht mit dem offiziellen Narrativ übereinstimmt, wird einem schnell vorgeworfen, Putin in die Hände zu spielen. Und so ein Vorwurf ist sehr gefährlich. Ich weiß, wovon ich rede, war selbst Überfällen von Rechtsradikalen ausgesetzt.

Funktioniert Demokratie im Kriegsrecht?

Die Menschen fühlen sich in die Enge getrieben, sie haben Angst. Sie sind demoralisiert, Politik ist gerade nicht das, was sie brauchen. Sie denken erst mal ans eigene Überleben. Wer sein Haus verloren hat, weil es zerstört ist, wer nur absolut miserable staatliche Unterstützung erhält, in einer Turnhalle leben muss, der wird den wählen, der ihm eine Dose Trockenfleisch bringt.

Aber wer will, kann seine Meinung frei und öffentlich sagen?

Im Krieg ist viel von Einheit die Rede. Und gleichzeitig darf man nichts tun, was vielleicht von der russischen Propaganda benutzt werden könnte. Letztlich hatten wir das auch schon unter dem Präsidenten Petro Poroschenko, wenn auch in milderer Form. Konkret sieht das so aus: Du demonstrierst gegen eine Erhöhung der kommunalen Gebühren und musst dir dabei anhören: »Was soll das? Bist du eventuell auch ein Unterstützer Russlands? Jetzt werden die russischen Medien deine Aktion aufgreifen und werden schreiben, dass dir die kommunalen Gebühren nicht passen.«

Will man den Krieg beenden?

Ich glaube, dazu fehlt der politische Wille. In Russland, klar, da fehlt er völlig. Aber auch bei uns fehlt er. Russland sagt: »Überlasst uns das von uns besetzte Territorium, lass uns da die Grenze ziehen.« Doch damit können wir, kann man im Westen nicht einverstanden sein. Für die Falken des Westens wäre dies gleichbedeutend mit einer Niederlage des Westens gegenüber Russland.

Es wurden ja sehr viele Kredite bezahlt. Und gleichzeitig wird nur wenig kontrolliert. Wir haben nach wie vor Kriegsrecht. Und das heißt unter anderem, dass es verboten ist, die Machthabenden zu kritisieren, dass wir eine riesige Korruption haben. Kurzum, alle halten den Mund. Niemand hat das Recht zu kritisieren, niemand hat das Recht, auf der Straße zu protestieren. So eine kritikfreie Situation ist doch für Machthaber, egal welcher Couleur, ein richtiges Märchen.

Ich frage mich, ob Wolodymyr Selenskyj und sein Umfeld wirklich glauben, dass sie an die Grenzen von 1991 kommen werden. Oder wollen sie einfach nur Zeit schinden, um so lange wie möglich in einer derart privilegierten Lage mit Kritikverbot zu sein? Mir fällt es schwer, auf diese Frage zu antworten. Irgendwie muss man mal den Punkt auf das i setzen, den Krieg beenden. Man sollte, meine ich, solange es möglich ist, militärische Fortschritte erreichen. Doch wenn diese ausbleiben, muss man verhandeln.

Interview

Wjatscheslaw Asarow ist Vorsitzender der Partei der Anarchisten der Ukraine, seit 30 Jahren aktiv in der Zivilgesellschaft. Der gelernte Seemann und Elektromechaniker hat einige Jahre auf Fischereischiffen und Schiffen der Handelsflotte gearbeitet, war anschließend, wie er sagt, »erfolgloser Unternehmer«. Er betreibt einen Telegram-Kanal (https://t.me/slav_azaroff), beschäftigt sich mit historischen Forschungen und ist Autor mehrerer Bücher zu Anarchismus und Nestor Machno, die in der Ukraine und Kanada veröffentlicht wurden.

Wurden in der Ukraine Fehler gemacht?

Ich denke, man hätte verhandeln müssen. Vielleicht hätte man dann den Krieg verhindern können.

Wie soll es weitergehen?

Ich hoffe, dass es bald zu demokratischen Wahlen kommen wird. Und dann geht es auch um die Frage, wie wir unsere Wirtschaft wieder aufbauen wollen. Bisher haben wir vom Westen 170 Milliarden Dollar erhalten. Dieses Geld muss irgendwann zurückgezahlt werden. Die Geldgeber sind ja nicht unsere Mäzene. Das bedeutet, die Ukraine wird auf lange Sicht ein armes Land bleiben.

Vor diesem Hintergrund, glaube ich, sind die Ideen von Nestor Machno aktuell: Selbstorganisation der Gesellschaft, demokratische Strukturen auf der untersten kommunalen Ebene. Wir Anarchisten sind beim Wiederaufbau zu einer Zusammenarbeit mit den Machthabern bereit, wenn sich dabei unsere Sicht der gegenseitigen Hilfe umsetzen lässt. Für uns gibt es nur zwei rote Linien: Wir lehnen eine Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst ab, und wir sind nicht bereit zu einer Zusammenarbeit mit Rechtsradikalen.

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