Bismarck und kein Ende?

Vor 125 Jahren starb der erste deutsche Reichskanzler – mit ihm kann man Geschichte besser verstehen

  • Achim Engelberg
  • Lesedauer: 7 Min.
Wie modern ist dieser Politiker?
Wie modern ist dieser Politiker?

Am 30. Juli 1898 starb Otto von Bismarck auf seinem Gut Friedrichsruh. Er wurde 83 Jahre alt. 1890 war er als Reichskanzler zurückgetreten. Seine entscheidende Rolle bei der ersten deutschen Einheit ist eindeutig, aber auch bei der zweiten, unserer, war das Erbe Preußens und des ersten deutschen Kanzlers nicht unwichtig.

Im letzten Jahrzehnt der deutschen Teilung gab es Annäherungen über das Erbe Preußens. In West-Berlin sorgte 1981 eine Preußen-Ausstellung für Furore. Das Reiterstandbild Friedrichs des Großen von Christian Daniel Rauch war damals schon wieder im Ostteil Berlins auf der Straße Unter den Linden aufgestellt. Der West-Berliner Senat gab die von Schinkel entworfenen Schlossbrückenfiguren zurück, die DDR revanchierte sich mit der Rückgabe des Archivs der Preußischen Porzellanmanufaktur.

1985 erschien der erste Band der Bismarck-Biografie von Ernst Engelberg, meinem Vater: »Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer«. Im »Spiegel« schrieb damals Rudolf Augstein, Engelberg setze »einen Eckstein, von dem aus man sich geschichtlich und kulturell verständigen könnte. Die DDR verdankt ja ihre Existenz nicht nur Hitler, sondern auch Bismarck.«

In der Biografie lässt Engelberg auf vielschichtige Weise historische Gestalten im weltgeschichtlichen Rahmen agieren. Ein Beispiel: Am 18. Januar 1871 versammelten sich Vertreter des deutschen Militärs und Adels im Spiegelsaal des Versailler Schlosses, um Wilhelm I. zum Kaiser auszurufen und mit diesem Akt die erste staatliche Einheit Deutschlands symbolisch zu vollziehen. Ort und Zeit waren wohlüberlegt, denn just an diesem Tag im Jahre 1701 hatte sich Friedrich I. in Königsberg zum preußischen König krönen lassen. In der Zeremonie mit Generälen und Fürsten zeigt sich der Doppelcharakter: Die nationalstaatlichen Forderungen der 1848er Revolutionäre wurden erfüllt und gleichzeitig die Konterrevolution bewahrt.

Nach verheerender militärischer Niederlage Frankreichs demütigte man die Verlierer im Prachtsaal des französischen Absolutismus, in dem auf Schlachtgemälden die französischen Siege gezeigt werden. Und Otto von Bismarck war deshalb keineswegs in Champagnerlaune. Er versuchte bis zuletzt, den drakonischen Friedensvertrag zu entschärfen – vergeblich. Schweren Herzens schrieb er an seine unpolitische Frau, der er stets seine Herzschmerzen anvertraute, dass mehr erreicht sei, »als ich für meine persönliche politische Berechnung für nützlich halte. Aber ich muss nach oben und nach unten Stimmungen berücksichtigen, die eben nicht rechnen.«

Das Jahr 1871 bedeutete nicht nur für Deutschland eine Zeitenwende. In Zentraleuropa vollzog sich, mit Ausnahme Polens, die Nationalstaatsbildung – und stets mit Gewalt. Eine spezifische Brutalität Bismarcks gab es nicht; so gründete angesichts des leichenübersäten Schlachtfelds im italienischen Solferino ein Schweizer Humanist im Jahre 1863 das Rote Kreuz mit der farblich umgekehrten Nationalfahne der Schweiz.

»Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden«, so hatte Otto von Bismarck eine Kritik vom Zaren in Petersburg abgewehrt, als er in den 1860er Jahren erkannt hatte, dass das Stemmen gegen den Nationalstaat, der sich seit den bürgerlichen Revolutionen in zentralen Ländern Europas durchsetzte, einen Zusammenbruch der alten ständischen und kleinstaatlichen Ordnung hervorrufen musste. Henry Kissinger beschrieb den ersten deutschen Kanzler als einen »weißen Revolutionär«. Und ein roter Revolutionär, Karl Radek, den Stalin im Großen Terror ermorden ließ, zeigte sich tief beeindruckt vom Realitäts- und Möglichkeitssinn dieses Urpreußen.

Heute ist Deutschland eine staatlich geeinte, innerlich zerrissene Macht in der Mitte Europas. Dass immer noch vieles nicht zusammengeführt ist, wird augenfällig bei der Distanzierung von Bismarck. Sie hänge, so liest man, vor allem mit der bislang unterbelichteten Kolonialpolitik zusammen. Allerdings erscheint diese bei Ernst Engelberg differenziert und zugleich entschieden auf der Negativseite, ohne die imperialen Hauptschuldigen zu verschweigen.

Diese Aktualität entstand nicht aufgrund prophetischer Gaben, sondern hängt mit Traditionslinien deutscher Geschichte und Kultur zusammen, mit denen Engelberg verbunden war und die noch nicht in einer erst rudimentär existierenden gesamtdeutschen Erinnerungskultur verankert sind. Schon auf der ersten Seite von »Das siebte Kreuz«, des berühmten Romans von Anna Seghers, den Fred Zinnemann in Hollywood verfilmte, findet man im Konzentrationslager eine organisierte Grausamkeit, die aus den Kolonien kommt. Während der »alte Kämpfer«, der erste Lagerkommandant, »plötzlich alle zusammenschlagen« lassen konnte, geht sein Nachfolger mit zielgerichteter Bestialität vor: Er war ein sogenannter »Afrikaner gewesen, Kolonialoffizier vor dem Krieg«. Und so ist es kein Zufall, dass in der DDR die Kolonialgeschichte früher erforscht worden ist, was nur teilweise im Westen wahrgenommen wurde.

So schrieb Uwe Timm Ende der 70er Jahre »Morenga«, den klassisch gewordenen postkolonialen Roman der alten Bundesrepublik, den es heute in einer Neuedition mit einem Vorwort von Robert Habeck gibt. Titelgestalt war der markante Anführer des Aufstands der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika. Eine der ersten quellengestützten deutschen Arbeiten über diesen Kämpfer gegen den Kolonialismus verfasste Horst Drechsler, der als sogenannter Mischling die Nazi-Diktatur überlebt hatte, in den 1967 erschienenen Afrika-Studien, die Walter Markov, ein Kollege und Freund von Engelberg, herausgab.

Der Erzähler Uwe Timm schrieb seinen Roman noch als Mitglied der DKP, aus der er aber wegen der unkritischen Haltung gegenüber der DDR bald austrat. Später verfilmte Egon Günther, einer der wenigen DDR-Regisseure von Weltrang, nachdem er nur noch im Westen arbeiten konnte, das Buch – 1984 für den WDR. Ernst Engelberg weigerte sich zur gleichen Zeit, im Westen nur in DKP-nahen Verlagen zu publizieren, und suchte andere Möglichkeiten. Das konnte er sich leisten, weil er wie Anna Seghers im Exil gewesen war. So kam er zum Preußenkenner und konservativen Verleger Wolf Jobst Siedler, der später über den dann befreundeten Autor schrieb, er sei »gelehrt, aber auch gezügelt vom Sozialismus«.

Insgesamt publizierte ich als Herausgeber und als Co-Autor fünf Bücher von Ernst Engelberg, der 2010 im Alter von 101 Jahren starb. Bei zahlreichen Veranstaltungen musste ich verhindern, dass aktuell klingende Passagen mir zugeschrieben wurden. So hatten am Anfang noch viele das Unwort des Jahres 2008 »notleidende Banken« im Ohr, wenn ich von »notleidenden Instituten« aus dem Jahr 1873 las. In beiden Fällen sahen viele in den Spekulanten keine Notleidenden. Die Auswirkungen auf die erste deutsche Einheit, wo diese Depression als Gründerkrach in die Geschichte einging, beschrieb Engelberg ausführlich, weil dadurch charakteristische Merkmale einer zyklischen kapitalistischen Krise erzählerisch gestaltet werden und die beginnende Verschiebung des Schwerpunkts der Weltwirtschaft gezeigt werden konnten. Die nächste vergleichbare Krise begann nicht mehr in der Wiener Börse, sondern in New York.

Die heute dringend gefragte Fähigkeit Otto von Bismarcks, ungewöhnliche Koalitionen zu schmieden, zeigte sich nicht nur in der großen Politik, sondern auch im kleinen Kreis der Mitarbeiter. Es begann das erste planetarische Zeitalter, wie man es in Fontanes Epochenbuch »Stechlin« lesen kann: »Hinter dem Berge wohnen auch Leute«, heißt es dort leitmotivisch. Diese Formulierung borgte sich Fontane von Lothar Bucher, einst Revolutionär von 1848, der aus dem Exil zurückkehrte und sich zum engen Mitarbeiter Bismarcks entwickelte. An der wachsenden Zahl der Auslandskorrespondenten erkannten Fontane und Bucher schon damals die geostrategische Schwerpunktverlagerung in Regionen jenseits des »alten Europas«.

Seit 2014 tobt der Krieg in und um die Ukraine, aber blieb bis zum Februar 2022 beschränkt auf den Osten des Landes. Schon im 19. Jahrhundert war Russland ein expandierendes Imperium, das nach Engelberg zu »grobschlächtig« vorging. Was damals »slawische« Welt hieß und bis nach Bulgarien und Montenegro ausgriff, heißt heute »russische«. Es ist schon seltsam, dass in Zeiten, in denen ein Historiker vom Rang eines Christopher Clark Muster des 19. Jahrhunderts wiederkommen sieht, die Aktualität von Bismarck bestritten wird. Es gilt immer noch, was Engelberg 1998 zum 100. Todestag im Hamburger Rathaus sagte: »Er ist noch nicht in der Geschichte versunken, dieser Bismarck, wenn wir ihn, was stets zu unserem Schaden war, nicht negieren.«

Achim Engelberg ist Publizist, zuletzt erschien von ihm »An den Rändern Europas«, 2021 bei DVA.

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