• Politik
  • Transsexualität in Russland

Russland: Avantgarde des Rückschritts

Translobbyist Vincent T. über die Folgen des Verbots von Geschlechtsangleichungen

  • Interview: Varvara Kolotilova
  • Lesedauer: 6 Min.
St. Petersburg 2013: Heute ist das Symbol der LGBT-Bewegung in Russland kaum mehr zu sehen.
St. Petersburg 2013: Heute ist das Symbol der LGBT-Bewegung in Russland kaum mehr zu sehen.

Am 14. Juli verabschiedete die russische Staatsduma einstimmig ein Gesetz, das »Geschlechtsumwandlungen« und Änderungen der Geschlechtsangabe im Pass verbietet. Die finale Abstimmung ging ohne großes Aufsehen über die Bühne.

Ja, aber nicht still und leise. Sogar meine Mutter, die solche Nachrichten eigentlich nicht verfolgt, war informiert, weil darüber im Fernsehen berichtet wurde – als ein moralischer Siegesakt über den Westen.

War das Gesetz in dieser Form für Sie eine Überraschung oder haben Sie eine solche Entwicklung erwartet?

Einschränkungen in Bezug auf Änderungen der Geschlechtsangabe, also bei der juristischen Anerkennung der Geschlechtsidentität, sind seit Langem Usus. Zuletzt wurde im Pandemiejahr 2020 darüber heftig debattiert. Dass das Thema jetzt unter Kriegsbedingungen abgehandelt wurde, muss nicht verwundern, aber die Härte des Gesetzes hat mich dann doch erstaunt.

Wie war denn die bisherige Praxis?

Seit Beginn der 1990er Jahre waren Änderungen der Geschlechtsangabe möglich. Es mussten aber diverse Gremien zustimmen, und Standesämter erteilten haufenweise Absagen, was den Gang zum Gericht erforderlich machte. Die Standesämter wehrten sich aus einem einfachen Grund: Es existierte keine gesetzlich geregelte Form zur Ausstellung entsprechender Bescheinigungen, sodass das Gericht über die Gültigkeit vorgelegter Bescheinigungen individuell zu entscheiden hatte. 2018 schuf ein neues Gesetz klare juristische Rahmenbedingungen. Medizinische Gutachten, darunter von zwei Psychiatern, blieben Voraussetzung. Diese Regelung war pathologisierend – man musste bereit sein, sich als psychisch krank einstufen zu lassen –, juristisch gesehen entbehrte die Prozedur aber nicht einer gewissen Logik.

Muss dem zwingend eine Geschlechtsangleichung vorangehen? In der öffentlichen Debatte in Russland verschwimmen die Begriffe – mal geht es um sexuelle Orientierung, mal um Geschlechtsidentität.

Was im Moment unter Geschlechtsumwandlung verstanden wird – genau diese Formulierung steht im neuen Gesetz – ist nicht definiert. Eindeutig hingegen ist, was unter ein Verbot fällt: die Veränderung von Geschlechtsangaben, chirurgische und medikamentöse Eingriffe, geschlechtsangleichende Hormontherapien und generell Hormonbehandlungen zur Veränderung von primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Dazu kommt ein Vormundschafts- und Adoptionsverbot.

Es wurde außerdem berichtet, dass bereits geschlossene Ehen annulliert werden sollen. Stimmt das?

Im Gesetzestext steht davon nichts und eine qualifizierte juristische Bewertung steht noch aus. Allerdings wäre das mit enormem Aufwand verbunden. Gleichwohl lässt es sich derzeit nicht komplett ausschließen.

Wie haben Transmenschen das Gesetz aufgenommen, die Ihre Organisation unterstützt?

Trans*coalition ist kein Dienstleister, unsere Aufgabe besteht in der Lobbyarbeit in Osteuropa und Zentralasien. Ausnahme ist eine Hotline, die wir nach Kriegsbeginn eingerichtet haben. Transorganisationen in Zentralasien beobachten sehr genau, was in Russland passiert, denn dort könnten Gesetzesänderungen nach russischem Vorbild folgen. In Kirgistan laufen derzeit Vorbereitungen zum Verbot sogenannter LGBT-Propaganda.

Das heißt, Russland hat sich zu einer Art Avantgarde des Rückschritts für eine ganze Region entwickelt?

Genau, und zwar nicht nur in ideologischer Hinsicht, sondern auch in finanzieller. Queerfeindliche Bewegungen werden nicht nur aus den USA finanziert, sondern auch aus Russland. Konstantin Malofejew und Wladimir Jakunin sind solche homo- und transphoben Sponsoren, die sogenannte traditionelle Werte stärken.

Wie wahrscheinlich ist es, dass das neue Gesetz transphobe Stimmungen in Russland weiter anheizt?

Das kann ich nicht einschätzen, die Bevölkerung hat angesichts wirtschaftlicher Spannungen und Rubelverfall jedenfalls andere Sorgen. Aus meiner Sicht will das Gesetz betroffenen Bürgern gezielt Schaden zufügen. Ansonsten ist das eine reine Farce, denn Transmenschen gab es immer, und es wird sie auch immer geben.

Welche Auswirkungen des Gesetzes sind dann zu erwarten?

In erster Linie wirkt es sich direkt auf das Leben von Transmenschen, unsere Familien, unsere Kinder aus. Das ist auch meine persönliche Geschichte, ich habe Kinder und werde sie nicht offiziell adoptieren können, wenn den biologischen Eltern etwas zustößt. Der Gesetzgeber nimmt sich das Recht heraus, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, weil er annimmt, etwas stimme mit unseren Familien nicht. Es hat Folgen für Transmenschen, die um medizinische Hilfe ansuchen. Das Gesetz schränkt diese Möglichkeiten stark ein, Ärzte dürfen für Transmenschen keine speziellen Rezepte mehr ausstellen.

Was ist mit jenen, die bereits mitten in einer Hormontherapie stehen?

Das ist leider nicht geregelt. Testosteron wird per Rezept für 21 Tage ausgegeben. Müssen jene, die kein neues bekommen können, ihre Therapie abrupt abbrechen? Für den Organismus ist das extrem schädlich. Hier lautet wohl die Frage, ob die betroffene Person ihre Geschlechtsangabe im Pass bereits verändert hat oder nicht. Wenn ja, dann ist sie aus staatlicher Sicht keine Transperson mehr. Doch wie sich die Ärzte verhalten, wenn ihnen im Detail nicht klar ist, was noch erlaubt und was verboten ist, steht offen. Ebenso, welche Empfehlungen das Gesundheitsministerium ausspricht.

Heißt das, die Nachfrage nach Behandlungen im Ausland wird wachsen?

Zur Emigration werden wir nicht aufrufen. In unserem Fokus steht die Unterstützung von Transmenschen, sie sind selber befähigt, Entscheidungen zu treffen. Gemeinsam mit anderen Organisationen stellen wir derzeit einen ausführlichen Leitfaden über Bedingungen in den verschiedenen Ländern zusammen.

Kann die Trans*coalition unter den aktuellen Bedingungen in Russland überhaupt noch arbeiten?

Als überregionaler Organisation, also keiner rein russischen, stehen uns mehr Optionen offen. Egal mit welcher Agenda wir antreten, bleibt jedoch ein Restrisiko. Dabei ist es wichtig, zu betonen, dass russische LGBT-Aktivist*innen trotz der turbulenten Zeiten standhaft bleiben und sich über 80 Prozent von ihnen in Russland aufhalten. Nur eine Minderheit hat das Land verlassen. Der Bedarf nach Unterstützung nimmt ständig zu, und diese leisten schließlich nur LGBT-Organisationen, nicht der Staat.

Wie läuft das angesichts zunehmend repressiver Begleitumstände praktisch ab?

Über lokale Anlaufstellen, die es in etwa der Hälfte der russischen Regionen gibt. Über Jahre haben sie zu Ärzten, Juristen und Menschenrechtsorganisationen ein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut. Der Kontakt über diese Personen, die einen professionellen Umgang mit ihren Patienten und Klienten pflegen und für die deren Wohl im Mittelpunkt steht, unabhängig von Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung und Glauben, bleibt ja weiterhin bestehen. Aber es gestaltet sich schwieriger, Informationen über LGBT-Organisationen einzuholen, unsere eigene Website ist in Russland blockiert und nur per VPN abrufbar. Alarmierend sind die wachsende Hoffnungslosigkeit und dass sich Transmenschen melden, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen, weil sie keinen Sinn mehr sehen.

Wie lassen sich Trans*organisationen vom Westen aus unterstützen?

Es gibt drei Varianten: über unsere Arbeit berichten, Spendensammlungen unterstützen und den direkten Austausch mit LGBT-Strukturen in Russland fördern.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.