Tour de France Femmes: Wachablösung im Nebel

Demi Vollering bezwingt Annemiek van Vleuten auf der Königsetappe der Tour de France Femmes und übernimmt die Gesamtführung

  • Tom Mustroph, Col du Tourmalet
  • Lesedauer: 5 Min.
Solistin auf dem Pyrenäengipfel: Von Nebel umhüllt fuhr Demi Vollering am schnellsten den Tourmalet hoch.
Solistin auf dem Pyrenäengipfel: Von Nebel umhüllt fuhr Demi Vollering am schnellsten den Tourmalet hoch.

Ein Sieg gibt immer recht. Das konnte Demi Vollering nach einer epischen Etappe hoch zum Tourmalet für sich in die Waagschale werfen. Die Niederländerin kam als Solistin auf dem von Nebelschwaden dramatisch eingehüllten Pyrenäengipfel an. Sie distanzierte die zweitplatzierte Katarzyna Niewiadoma um fast zwei Minuten. Auf Annemiek van Vleuten, die Titelverteidigerin und Top-Favoritin, fuhr sie gar zweieinhalb Minuten heraus. »Demi Vollering war heute auf einem ganz eigenen Niveau«, erkannte van Vleuten die Überlegenheit ihrer Landsfrau an.

Zuvor hatte Vollering aber für überraschte Gesichter an der Strecke und auch Unverständnis von van Vleuten gesorgt. Als sich nämlich in der Abfahrt vom Col d’Aspin Niewiadoma aus dem Führungstrio herausgelöst hatte, stellte Vollering plötzlich die Arbeit ein. Sie wollte im Flachstück vor dem Tourmalet partout keine Führungsarbeit übernehmen. Auch van Vleuten nahm Tempo raus. Beide fuhren nebeneinander, lieferten sich fast ein Steherrennen in den Pyrenäen. Es war eine kuriose Szene. Denn vorne fuhr die Polin Niewiadoma das Rennen ihres Lebens, holte Sekunde um Sekunde auf die zaudernden Favoritinnen heraus. »Demi wusste, dass sie noch Teamkolleginnen hinter sich hat. Deshalb wollte sie nicht fahren, hat sie mir gesagt. Und wenn sie nicht fährt, dann fahre ich auch nicht«, löste van Vleuten schließlich die merkwürdige Szene auf.

Sie selbst hatte sich an diesem Samstag in den Pyrenäen etwas verkalkuliert. »Im Nachhinein betrachtet hätte ich am Col d’Aspin vielleicht nicht angreifen sollen«, meinte sie. Bis dahin hatte sie allerdings alles richtig gemacht und ihre Konkurrenz gehörig unter Druck gesetzt. Wie Antriebsstufen einer Rakete zogen ihre Movistar-Kolleginnen los. Tritt um Tritt reduzierten sie das Peloton. Auch die famose Ricarda Bauernfeind, Solosiegerin der 5. Etappe, musste dem hohen Tempo Tribut zollen. Letzte Antriebsstufe war Liane Lippert. Die Deutsche Meisterin und Gewinnerin der 2. Etappe erteilte mit der frühen Tempoarbeit für die Chefin allen eigenen Ambitionen eine Absage. Von der Vorarbeit ihrer Kolleginnen angesteckt ließ sich van Vleuten schließlich zu einer eigenen Attacke hinreißen. Nur Vollering und Niewiadoma kamen mit.

»Ich wollte eigentlich am Col d’Aspin gar nicht die Vorentscheidung suchen, sondern nur einen Nadelstich setzen. Dann wäre es zu meinem Vorteil, wenn ich es für alle anderen sehr schwer mache. Am Ende habe ich mir vielleicht mein eigenes Loch gegraben. Denn später wurde es zu schwer für mich. Ich hatte vielleicht auch ein bisschen zu viel Enthusiasmus und war ziemlich viel im Gegenwind«, meinte van Vleuten.

In der Abfahrt war dann Niewiadoma vom deutschen Rennstall Canyon SRAM die Schnellste und auch die technisch Beste. Sie brachte die Top-Favoritinnen in Zugzwang. Van Vleuten war dabei im Rennmodus, versuchte aufzuschließen. Vollering aber befand sich im kühlen Pokermodus und wartete auf Hilfe von hinten. Vor allem investierte sie selbst keine Kräfte in die Führungsarbeit.

Das ist erste Fahrerinnenpflicht beim Rennstall SD Worx. »Ich will, dass unsere Frauen im Finale so frisch wie möglich ankommen«, erläuterte Anna van der Breggen, Ex-Weltmeisterin und Sportliche Leiterin beim derzeit stärksten Frauenrennstall, gegenüber »nd« die Taktik. Die hatte bei der Rundfahrt schon mehrfach für Erstaunen gesorgt. Sie führte auch dazu, dass die Rennen kaum kontrolliert verliefen und auf drei der insgesamt acht Etappen Ausreißerinnen durchkamen. Die SD Worx-Frauen kamen zwar frisch genug im Finale an, um ganz vorn im Hauptfeld den Zielstrich zu passieren. Tagessiegerinnen wurden aber andere, unter ihnen auch Bauernfeind. Auf der Königsetappe der Tour zahlte sich diese Strategie aber aus. Van Vleuten gingen die Kräfte aus. »Es war einfach nicht mein bester Tag. Ich habe am Ende auch auf dem Powermeter gesehen, wie die Werte nach unten gingen«, meinte sie zu »nd«.

Vollering holte schließlich am Tourmalet auch Niewiadoma ein. Die konnte sich zumindest über Platz 2 am Tag und in der Gesamtwertung sowie das Bergtrikot freuen. Strahlende Siegerin wurde aber Vollering. »Mein Team hatte mir am Morgen gesagt, ich solle ruhig bleiben. Ich wollte früh am Tourmalet attackieren, aber sie sagten: Warte, warte!«, beschrieb sie im Ziel die Kommunikation mit dem Begleitwagen.

Van Vleuten musste sich geschlagen geben. »Natürlich bin ich enttäuscht. Ich stand am Start mit der Hoffnung, dass ich gewinnen kann.« Auch als Verliererin zog sie aber noch Befriedigung aus dem harten Arbeitstag. »Ich muss mir keine Vorwürfe machen. Ich habe alles getan, was ich konnte, ich habe mein Bestes gegeben und traf auf eine Gegnerin, die eben besser war. Damit kann ich meinen Frieden schließen. Wenn ich die ersten sechs Tage untätig gewesen und dadurch Zeit verloren hätte, würde ich sehr schlecht schlafen. Jetzt werde ich enttäuscht ins Bett gehen, aber ich muss mich nicht darüber ärgern«, fasste sie ihren Gemütszustand zusammen.

Van Vleuten, die Überfahrerin des letzten Jahrzehnts, fand am Tourmalet ihre Bezwingerin. Vollering, seit Jahren schon ihre große Gegnerin, hat damit ein wichtiges Ziel erreicht. Sie wollte bei dieser Tour de France Femmes van Vleuten vor allem deshalb schlagen, damit es bei späteren Siegen nicht heißen kann, sie habe ja nur gewonnen, weil van Vleuten nicht mehr dabei ist. Der Regentinnenwechsel ist eingeläutet im Frauenradsport. Es hätte keine bessere Bühne geben können als diesen Tourmalet. Der war auch noch mit Wolken verhangen, sodass Götterdämmerung und Apokalypse zusammenzutreffen schienen. Die Rundfahrt selbst wurde am Sonntagabend in einem Einzelzeitfahren in Pau entschieden.

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