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Weltkulturerbe aus dem Weltkrieg
Es dauerte lange, bis die Kriegsgräuel der japanischen Kwantung-Armee bekannt wurden. Mittlerweile informiert ein Museum in der chinesischen Stadt Harbin darüber
In der vergangenen Woche meldeten japanische Medien, dass Seiichi Morimura mit 90 Jahren verstorben sei. Die Nachricht fand auch Eingang in den Kulturkanal des »Deutschlandfunks«, da Morimura im Land der aufgehenden Sonne ein hochgeschätzter Schriftsteller war. Weil in Deutschland bisher kein Buch von ihm erschienen ist, hieß es klassifizierend: »Japanischer Krimiautor Morimura gestorben.« Das war er gewiss. Aber Morimura war mehr als ein Krimiautor.
Sein Name begegnete uns unlängst in Harbin, einem Ort im Nordosten Chinas – mit etwas mehr als fünf Millionen Menschen für chinesische Verhältnisse also eher ein Städtchen. Die Altstadt hat einen russischen Anstrich. Wir stiegen in einem Hotel ab, das schlicht »1903« hieß. In eben jenem Jahr hatte ein reicher Russe das Haus für sich errichten lassen. Dort verkehrt der älteste Lift von ganz China, und das Interieur – einschließlich der Garderobe des Personals – stammt aus eben jener Zeit: viel Jugendstil und schwere Vorhänge, dafür Hightech auf der Toilette. Draußen wehte die weißblaurote Trikolore und wenige Schritte weiter stand die russische Basilika der Heiligen Sophia, die ebenfalls zur Zarenzeit errichtet worden war. Heute wird sie als Musentempel genutzt; als wir hineinschauten, spielten zwei junge Chinesen gepflegten Jazz. Die Akustik war fantastisch, ihr Können auch.
Am Rande der Großstadt besuchten wir einen Ort, der der eigentliche Grund für die weite Reise in die Provinz Heilongjiang war. Hier hatte die Zentrale der berüchtigten »Einheit 731« der japanischen Kwantung-Armee ihren Sitz. Im Süden der Stadt, an der Xinjiang Straße, finden sich die Reste des Konzentrationslagers und das ehemalige Hauptquartier der Okkupanten sowie, seit wenigen Jahren, ein architektonisch auffälliger Museumsneubau, in welchem die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der japanischen Faschisten in dieser Region dokumentiert sind. Und genau dort stießen wir auf Seiichi Morimura.
Sein Name fiel im Gespräch mit Gao Peng, einem 29 Jahre alten studierten Wirtschaftswissenschaftler, der seit über fünf Jahren in diesem Museum arbeitet. Die Einrichtung war von Jin Cheng Min, einem Geschichtsforscher und Institutsleiter, begründet worden: in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer in einem der Häuser nebenan, die die Japaner einst für ihr Personal errichtet hatten und die wegen ihres Anstrichs noch heute »die bunten Häuser« heißen. Nur wenige Chinesen hatten damals detaillierte Kenntnis vom Wüten der Kwantung-Armee, von den Menschenversuchen mit biologischen und chemischen Waffen und anderen Verbrechen. Opfer und Zeugen überlebten nicht, und Aufzeichnungen in China gab es kaum, in Japan sprach man nicht darüber. Bis eben jener Seiichi Morimura das Schweigen brach. In einer Zeitungsserie, die 1981 erschien und später unter dem Titel »Akuma no Hoshoku« (»Das Festmahl der Teufel«) als Buch publiziert wurde, berichtete er über die Gräueltaten dieser berüchtigten Einheit 731.
Morimura war ein überzeugter Pazifist und Antimilitarist, er hatte als Kind die Bombenangriffe der US-Luftwaffe auf Tokio überlebt. Das prägte und motivierte ihn, der Frage nachzugehen, warum die Alliierten das Kaiserreich überhaupt attackierten und weshalb über den Beitrag der Japaner zum Weltkrieg so beharrlich der Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Bis vor wenigen Jahren wurden die Kriegsverbrechen in japanischen Lehrbüchern als »Zwischenfälle« verharmlost; erst 2002 hatte ein Gericht in Tokio erstmals bestätigt, dass es die Einheit 731 überhaupt gegeben und diese tatsächlich Verbrechen verübt habe. Man stelle sich vor: In Deutschland wäre erst 2002 der verbrecherische Charakter etwa der SS offiziell eingeräumt worden.
Seiichi Morimura beschäftigte sich auch mit dem Giftgas, das in der Bucht von Hiroshima produziert und in China eingesetzt worden war, sowie den anderen barbarischen Übergriffen der Kolonialmacht Japan. Er sprach mit überlebenden Soldaten, recherchierte in amerikanischen Archiven und wälzte ihm zugängliche Akten.
Seine Enthüllungen erschütterten Japan. Die seismischen Wellen erreichten auch Harbin und dort Jin Cheng Min, den Historiker. 1982 trafen sich der Japaner und der Chinese zum ersten Mal. Sie tauschten sich aus, in der Folge wurde 1983 dieses Museum in Harbin gegründet. Faktisch lieferte Morimura dafür den wohl entscheidenden Impuls.
Um diese Region, die rohstoffreiche Mandschurei, bekriegten sich das russische Zarenreich und das japanische Kaiserreich. Und nachdem Japan 1910 bereits Korea annektiert hatte, riss es sich 1931 weitere 800 000 Quadratkilometer unter den Nagel und installierte den Marionettenstaat Mandschukuo: ein Areal doppelt so groß wie das heutige Deutschland. In den Folgejahren versuchte die Kwantung-Armee, dieses Territorium noch weiter auf sowjetisches Staatsgebiet auszudehnen. Dabei erlitt sie jedoch eine vernichtende Niederlage, weshalb die Invasoren nach Süden expandierten, was schließlich zum nationalen Widerstand der Chinesen führte.
Der vierzehnjährige Krieg in China endete 1945 mit der Flucht der Japaner, die die Stätten ihrer Untaten zerstörten, ihre Spuren verwischten, Beweise ihrer Verbrechen vernichteten, einige Tausend Tonnen Giftgas vergruben, deren Lagerorte zum großen Teil bis heute unbekannt sind und hin und wieder für Unfälle sorgen.
In Harbin hinterließen sie auch die Trümmer eines Gefängnisses, deren Insassen für medizinische Experimente missbraucht wurden: ein gemauerter Kasten mit zwei Quergebäuden im Innern, den Spezialgefängnissen Nr. 7 und 8, getrennt nach Geschlechtern. Daneben die Kommandozentrale der Einheit 731, wo die Befehle erteilt wurden für Menschenversuche innerhalb und außerhalb des Gefängnisses. Man »testete« Krankheitserreger von Pest bis Milzbrand, setzte infizierte Flöhe und Ratten aus, ließ Menschen mit Typhuskeimen versetzte Lebensmittel verzehren (und filmte dies auch noch, um die Lebensmittel als vermeintliche Spende propagandistisch auszuschlachten). Die Ärzte sperrten ihre Opfer in Kälte- und Unterdruckkammern und setzten sie Detonationen aus, um festzustellen, wann die körperlichen Funktionen versagten. Sie kippten chemische Kampfstoffe in Brunnen und Flüsse und versprühten sie mit Flugzeugen …
Es waren Teufel, sagt Gao Peng, und führt uns durch die dunklen Hallen des Museums. Das Licht fällt ausschließlich auf die Exponate an den Wänden, an den Decken und im Boden unter dickem Glas. Medizinische Gerätschaften, Granaten, Fotos, Mikroskope, Tagebücher, Dokumente. Auf Monitoren laufen Videos: Die letzten Zeugen reden, die meisten sind inzwischen nicht mehr. Jin Cheng Min und seine Mitarbeiter waren in Japan unterwegs, und auch ehemalige japanische Soldaten, die den Weg zu ihnen nach Harbin fanden, setzten sie vor die Kamera. Zu fast jedem Exponat kann Gao Peng etwas erzählen: Die Granate dort hat der Chef von einem Japaner abgekauft, das Tagebuch hier hat er von einem Bauern, der es auf seinem Feld beim Rückzug der Japaner gefunden hat. Die Kollektion ist beeindruckend. Über 13 000 Exponate.
In einem Saal wird auch an den Prozess gegen zwölf Mitglieder der Kwantung-Armee, darunter acht Mediziner der Einheit 731, erinnert. Das Verfahren fand in Chabarowsk statt, jenseits der chinesischen-sowjetischen Grenze, denn Opfer der Kriegsverbrechen waren nicht nur Chinesen und Koreaner, sondern auch gefangene Rotarmisten. Moskau war an einem internationalen Militärtribunal interessiert, ähnlich dem in Nürnberg. Doch man schrieb Ende 1949, der Kalte Krieg tobte bereits mächtig. Die Versuche der Sowjetunion, die Weltöffentlichkeit für dieses Thema zu interessieren, wurden insbesondere von den USA als kommunistische Propaganda abgetan. Der Hintergrund vermutlich: Viele japanischen Biowaffenspezialisten arbeiteten bereits in den USA, die deren Kompetenz für die Entwicklung eigener Kampfstoffe nutzten. Der für die biologische Kriegführung in China verantwortliche General Ishii Shiro und andere Kriegsverbrecher genossen Immunität. Es hängt eine Übersicht an der Museumswand, was aus den skrupellosen Medizinern nach 1945 geworden ist. Ihre Karrieren liefen ohne Delle weiter.
Das Museum ist stark frequentiert, in Gruppen und einzeln laufen die Besucher durch die Hallen, Brigaden und Delegationen, Rentner, Studenten, Schüler, Ehepaare. Am 5. April, dem ersten Tag nach der Corona-Schließung, hätten sie rund 19 000 Besucher begrüßt, sagt Gao stolz. Vor acht Jahren, als der neue Museumsbau öffnete, betrug der Tagesdurchschnitt etwa die Hälfte. Kommen auch Ausländer, etwa Japaner? Ja, sagt er, viele reagierten entsetzt, weil sie nichts davon wussten, allenfalls geahnt hatten. Und er? Er dürfe seine Empfindungen nicht zeigen, antwortet Gao, er präsentiere neutral und sachlich. Was ist der Grund, dass so viele Menschen hierher kommen? Es kann doch nicht allein daran liegen, dass der Eintritt gratis sei?
Er spüre ein wachsendes Interesse seiner Landsleute an diesen Teil ihrer Geschichte. Sie wollen wissen, woher sie kommen und auf welchen Schultern sie stehen. Es gehe aber nicht nur um die Erinnerung. Der Ort sei Mahnung und Warnung zugleich. Man müsse aufpassen, dass die Teufel nie wieder eine Gelegenheit zu einem Festmahl bekämen.
Wir verlassen den Betonbau und gehen durch einen Tunnel hinüber zum Hauptquartier und den Ruinen. Davor dehnt sich ein schotterbedeckter weiter Raum, den Appellplätzen in Buchenwald oder Dachau nicht unähnlich. Alles in allem eine Viertelmillion Quadratmeter, die einst größte Militärbasis zu Produktion und Erprobung biologischer Waffen weltweit. 2012 beantragte China, diesen einzigartigen Gedenk- und Mahnort auf die Weltkulturerbeliste der Unesco zu setzen. Die Entscheidung steht noch aus. Japan und die USA sind dagegen.
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