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Berlin Mitte: Zyklus der Gentrifizierung
Im Gebäudekomplex »Am Tacheles« öffnen die ersten Läden, vom alten Kunsthaus ist kaum etwas geblieben
Man konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als im »Berliner Fenster« der U-Bahn die »B.Z.« verkündete: »Am Tacheles zieht endlich wieder Leben ein. Ein neuer Kiez erwacht: Die ersten Geschäfte im Quartier am Tacheles haben eröffnet. Rewe und Rossmann liefern Basics fürs neue Leben und Arbeiten an einem legendären Ort.«
Mit den Handelsketten zieht also Leben ein, ein seltsamer Lebensbegriff, denkt man sich. Sehen will man das anscheinend (auf-)blühende Leben aber dennoch und macht sich umgehend auf zum neuen Quartier. Am Oranienburger Tor angekommen, murmelt man dann in sich hinein: »Mensch, hier ist man ja schon ewig nicht mehr gewesen«; gefühlt ist man Tourist in der »eigenen« Stadt, und ob man will oder nicht, dieser Modus bewegt etwas im Subjekt, bewegt das Subjekt durch die Straßen und Räume, wie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz feststellt. Und dieser Modus ist auch ein gewollter Effekt von Stadtplanung und Stadtökonomie.
Man betritt also das Quartier von der Seite Friedrichstraße, nachdem man sich noch Rewe und Rossmann im ersten Untergeschoss angeschaut hat. Es wird eingekauft, besonders fleißig aber noch nicht. Oben, in der Passage, die Friedrichstraße und Oranienburger Straße miteinander verbindet, dann relativ öde Funktionsarchitektur; herausstechende Merkmale sind die sichtbaren mattgrauen Ziegelsteine der Wände, die die eher futuristisch abgerundeten Schaufenster nett kontrastieren. Ungefähr auf der Mitte des Weges zum Ausgang Oranienburger Straße liegt ein relativ großer achteckiger Platz, in dessen Zentrum ein wenig verloren ein Baum steht, mit einer Bank drum herum.
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Hier befand sich einst die große Kuppel der Friedrichstraßenpassage, die 1907 bis 1908 komplett in Stahlbeton errichtet worden war, als eines der ersten Gebäude dieser Bauart in Deutschland. Und zentral ist dieser Werkstoff heute noch auf dem gesamten Gelände, auch auf und um den noch nicht begehbaren Aaron-Bernstein-Platz. Hier wird wohl auch auf diese Geschichte des Geländes materialästhetisch Bezug genommen.
Weiter geht es, am einsamen Baum vorbei, der Weg macht einen Knick, rechts kann man durch einen Durchgang die noch teilweise im Bau befindlichen Gebäude am Aaron-Bernstein-Platz sehen. An ihrer Planung und Umsetzung sind namhafte Architekten und Architekturbüros wie Brandlhuber+ Muck Petzet, Herzog & de Meuron und Grüntuch Ernst Architekten beteiligt.
Nach links geht es dann zum Ausgang Oranienburger Straße durch das eigentliche alte Tacheles, dass von 1990 bis 2012 ein Künstlerhaus war, in dem sich Ateliers, Ausstellungsräume, ein Kino und das Tanzlokal »Zapata« befanden. Als der Mietvertrag auslief, der damalige Eigentümer insolvent war und der Gebäudekomplex zwangsversteigert wurde, wehrten sich die Künstler*innen gegen den Auszug. 2012 wurde das Haus schließlich zwangsgeräumt, 2014 an ein US-amerikanisches Finanzdienstleistungsunternehmen verkauft, 2016 begannen die Bauarbeiten.
Während der Eingang von der Friedrichstraße aus schon fertig ist, wird auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes noch gebaut. Auch wenn das Objekt zwecks Renovierung noch eingerüstet ist – der Eingangs- beziehungsweise Ausgangsbogen war und ist immer noch imposant. Trotz Einrüstung ist es allerdings nicht schwer, sich den vereinheitlichenden Effekt vorzustellen, der hier durch das Zusammenspiel verschiedener Stilepochen und Nutzungsfunktionen bei gleichzeitigem Sog des Verwertungsimperativs erzeugt werden wird.
Also nichts Neues in Sachen Gentrifizierungsprozess unter grauem Berliner Himmel? Nicht unbedingt, aber bemerkenswert ist das Quartier auf gewisse Weise doch. Hier wird nicht direkt zerstört, wie häufig in den Lamentos über den Verlust des Charakters der Stadt im Zuge ihrer kapitalistischen Verwertung beklagt wird. Etwas kommt zu sich selbst. So hart es klingt: Das Projekt ist der Endpunkt eines weiteren Gentrifizierungszyklus, dessen Beginn unter anderem schon in der Kulturalisierung und Ästhetisierung Berliner Räume und deren (Selbst-)Mystifizierung in den »wilden« 80er (Westen) und 90er (Osten) Jahren liegt. Und an ebenjener Mystifizierung war das Tacheles mit seinen Künstler*innen und subkulturellen Klein- und Gastronomiegewerben beteiligt.
Dass im September 2023 eine Niederlassung des privaten schwedischen Fotomuseums Fotografiska in das denkmalgeschützte Tacheles-Gebäude einzieht, folgt nur konsequent der Logik dieses Prozesses. Am Ende steht Musealisierung. Diese wird hier auf die Spitze getrieben, neuartig ist sie wiederum auch nicht. Schließlich gab es gegenüber vom Tacheles bis 2012 das Fotomuseum C/O im Gebäude des ehemaligen Postfuhramtes. Dessen Auszug schloss einen vorangegangenen Gentrifizierungszyklus ab.
Das ganze Haus plus seine Geschichte wird, auch dank des Denkmalschutzes, zu einem Sammelobjekt für Reiche. Und es scheint sogar, dass es hier gar nicht so sehr um Spekulation auf steigende Wohnungspreise geht – dies ohne Frage auch –, als vielmehr um das Besitzen um des Besitzens willen. Renommierte Architekturbüros haben das Tacheles und die Wohngebäude um den Aaron-Bernstein-Platz designt als belebbare Großplastiken.
In den von Kubismus und Brutalismus inspirierten Gebäuden kreuzen sich Vorstellungen vom interesselosen Wohlgefallen der klassischen bürgerlichen Ästhetik und Durchdringung der Lebenspraxis mit Kunst (und umgekehrt) der modernen Avantgarden. Welche baulichen Ergebnisse diese Durchdringung im Spätkapitalismus zeitigt, kann man ganz wunderbar am Tacheles-Quartier beziehungsweise im gesamten Kiez um die Oranienburger Straße ablesen.
Vielleicht hat die »B.Z.« doch etwas getroffen: Lebendiger und vor allem finanziell zugänglicher ist das Leben unten bei Rewe und Rossmann schon. Kaufen und Verkaufen als Kultur, darüber fällt man hier wenigstens keine falschen Urteile.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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