• Berlin
  • Gewerkschaften in der Krise

Arbeitskampf auf schwindenden Landen

Beschäftigte im Einzelhandel müssen sich auf lange und zähe Auseinandersetzungen um einen Tarifvertrag einstellen

  • Christian Lelek
  • Lesedauer: 7 Min.

Donnerstagvormittag: Die Gewerkschaft Verdi hat zur Pressekonferenz geladen. Eigentlich geht es um den Stand der Tarifrunde im Einzelhandel in Berlin und Brandenburg. Doch die ebenfalls geladenen Beschäftigten machen schnell deutlich: Ihnen ist vor allem daran gelegen, die Dramatik ihrer Lage zu vermitteln. Ihre Beiträge, die sie als beispielhaft für alle Kolleg*innen verstanden wissen wollen, sind von Emotionalität geprägt. Manche entschuldigen sich, dass ihnen die Stimme wegbricht, andere müssen von der Moderation ob der Länge ihrer Beiträge unterbrochen werden.

Roman Galinski, der bei H&M in der Wilmersdorfer Straße in Charlottenburg arbeitet, hebt die Berliner Perspektive hervor. Die immer weiter steigenden Mietkosten hätten jeden Blick in den Briefkasten zu einem Horror werden lassen. Kolleg*innen hätten teils Mieterhöhungen von 100 bis 150 Euro im Monat erhalten. »Muttis mit Kindern wohnen in zu kleinen und zu teuren Wohnungen, weil ein Umzug bei dem Geld, das wir verdienen, nicht in Frage kommt«, sagt Galinski. Das Geld sei auch deswegen so knapp, weil H&M, wie in der Branche üblich, nur kleine Verträge vergäbe. Es würden Verträge mit Kolleg*innen vereinbart, wonach diese mindestens zehn Stunden pro Woche zu arbeiten hätten.

Das Problem der geringen Stundenkontingente durch grassierende Teilzeitverträge betont auch Katja Vaternam im Gespräch mit »nd«. Seit 23 Jahren arbeitet die gelernte Kauffrau im Einzelhandel bei Kaufland, gegenwärtig in Adlershof in der Non-Food-Abteilung. Sie sei eine der wenigen Glücklichen, die noch einen Vollzeitvertrag hätten. Dennoch sagt Vaternam, die auch dem hiesigen Betriebsrat angehört: »Viele sind auf einen Zweitjob angewiesen. Wenn man auf die Lohntabelle schaut, denkt man: ›Das ist ja ein normaler Lohn‹, aber wenn man es auf Teilzeitarbeit runterrechnet, reicht es schlicht nicht.«

Die Lage vor Augen macht Verhandlungsführerin Conny Weißbach gegenüber dem erneuerten Angebot der Arbeitgeber, dem Handelsverband Berlin Brandenburg, unmissverständlich klar: »Es geht nicht um Einzelteile, das Gesamtpaket stimmt nicht.« Verdi hat selbst ein ambitioniertes Paket geschnürt. Der Forderung nach einem Lohnplus von 2,50 Euro bei einem Mindeststundenlohn von 13,50 Euro stehen die 5,3 Prozent der Arbeitgeber gegenüber. Weißbach meint, das seien für den Großteil der Beschäftigten gerade mal 91 Cent mehr pro Stunde. Nach ihren Berechnungen würde das einen deutlichen Reallohnverlust bedeuten: bei einer Vollzeitstelle monatlich 203 Euro. Die Arbeitgeber streben eine Laufzeit von 24 Monaten an, Verdi will neun.

Und die Gewerkschaft hat in ihrem Forderungskatalog die Wiedereinführung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung aufgelistet. Demnach wären nach Abschluss alle Unternehmen des Einzelhandels, egal ob sie Mitglied im Arbeitgeberverband sind oder nicht, an den abgeschlossenen Tarifvertrag gebunden. In verschiedenen Regionen hatten die Arbeitgeber mit Berufung auf diesen Punkt versucht per einstweiliger Verfügung Streiks zu unterbinden. Die Gerichte wiesen die Klagen jedoch ab.

Bundesweit arbeiten drei Millionen Menschen im Einzelhandel. Im Raum Berlin-Brandenburg sind es 230 000. Die Teilzeitquote liegt in Berlin bei 65 Prozent. Und: Der Einzelhandel ist ein von Frauen geprägtes Berufsfeld – zwei Drittel der Beschäftigten sind weiblich.

Für Gewerkschaften ist die Branche ein beinhartes Pflaster. Der Organisationsgrad hat sich in den letzten zwanzig Jahren auf mittlerweile unter fünf Prozent mehr als halbiert. Damit wird selbst der niedrige Bundesschnitt von 17 Prozent deutlich unterschritten.

Die Schwäche der Gewerkschaft in der Branche hat zum einen strukturelle Gründe. Die Auseinandersetzungen um Abschlüsse sind traditionell langwierig. Das System aus vielen kleinen Läden und Filialen mit wenigen Beschäftigten stellt die gewerkschaftliche Erschließung vor Herausforderungen. Es bedarf viel kleinteiliger Arbeit in den zahlreichen Betrieben, um überhaupt erst mal einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Die in die Betriebsstrukturen mittlerweile eingeschliffenen Arbeitsbedingungen, insbesondere das Teilzeitsystem, erschweren die Organisierung. Darauf weist auch Kaufland-Angestellte Vaternam hin: »Es kann sein, dass sich Kolleg*innen in ihrem ganzen Arbeitsleben noch nicht begegnet sind, weil die einen immer früh arbeiten und die anderen immer spät.«

Darüber hinaus fallen zusehends gewerkschaftliche Hochburgen wie die Drogeriekette Schlecker oder aktuell die Kaufhauskette Galeria den strukturellen Umbrüchen in der Branche zum Opfer.

Und nicht zuletzt bedeutet eine Schwächung der Gewerkschaft immer auch eine Stärkung des Kapitals. Schwache Gewerkschaften sind nicht attraktiv für die Beschäftigten. Und so wird es im Einzelhandel wie branchenübergreifend immer schwieriger, der Abwärtsbewegung noch entgegenzusteuern.

Aus der schleichenden, aber doch substanziellen Krise der Gewerkschaften ist kaum ein Ausweg auszumachen. Der ehemalige Leiter der Fachgruppe Handel von Verdi, Orhan Akman, weist im Gespräch mit »nd« auf die bundesweite Fragmentierung der Gewerkschaftsstruktur hin: »Verdi-Handel hat das Problem, dass regional auf Landesebenen und dann je nach Bundesland auch noch zeitversetzt verhandelt wird. Zudem werden die Arbeitskampfmaßnahmen dezentral geführt.« Stattdessen plädiert er für bundesweit einheitliche Tarifbestrebungen.

Akman kandidiert für den Bundesvorstand von Verdi. Er betont, dass er aus dieser Position und als Verdi-Mitglied spricht. Für Akman ist das von existenzieller Bedeutung. Im Zuge eines internen Konflikts hatte ihm Verdi gekündigt. Akman focht die Kündigung vor dem Arbeitsgericht an und bekam Recht.

Das Auftreten von Verdi in der gegenwärtigen Tarifrunde, insbesondere die Forderungen, hält Akman für wenig glaubwürdig. Die Vergangenheit hätte gezeigt, dass der Ausschluss von Einmalzahlungen und Laufzeiten bis zwölf Monaten unrealistisch sei. Die Lohnforderungen von 13,50 Euro hält er hingegen für zu niedrig. Denn Amazon und einige Drogerieketten würden jetzt schon freiwillig 14 Euro zahlen.

Zur Glaubwürdigkeit gehört für Akman auch die Art der Arbeitskampfführung. So sei dahingestellt, ob in den vergangenen Tarifrunden durch Erzwingungsstreiks bessere Ergebnisse hätten erreicht werden können. Aber: »Wir hätten dem Bedürfnis unserer Mitglieder mehr Rechnung getragen, die insbesondere durch die Entbehrungen der letzten Jahre sehr motiviert waren, noch zu kämpfen.«

Heiner Dribbusch war bis 2019 Tarif- und Arbeitskampfexperte beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Jüngst hat er einen historischen Überblick zu Streiks seit den 2000er Jahren veröffentlicht. Zu »nd« sagt Dribbusch, die Schwäche von Verdi im Handel habe weniger mit der Führung als mit der erwähnten Struktur der Branche zu tun.

Mit Blick auf Handlungsmöglichkeiten verweist er auf neuralgische Punkte in den Betriebsabläufen. So sei es Verdi in Bayern in der Vergangenheit zum Teil gelungen, die großen Auslieferungszentren zu bestreiken. Und noch einen Mangel hebt Dribbusch hervor: die gesellschaftliche Beachtung der Branche und ihrer Kämpfe. »Ein wichtiges, leider aber viel zu selten gesetztes Zeichen der Solidarität ist es, an Streiktagen in Filialen, vor denen Streikende stehen, wenigstens nicht einzukaufen. Diese Form von praktischer Unterstützung durch die Öffentlichkeit ist leider in Deutschland nicht sehr ausgeprägt.«

In den wichtigen, doch manchmal ausweglos erscheinenden Analysen und Strategiefragen helfen Blicke auf die Arbeit an der Mitgliederbasis. So berichtet Betriebsrätin Vaternam aus Adlershof, dass sie erst letztes Jahr an den Standort gewechselt sei. Bis dahin gab es keine gewerkschaftliche Verankerung und einen Betriebsrat, der wenig engagiert war. An ihrer vorigen Arbeitsstätte hatte sie hingegen schon einige Tarifrunden miterlebt. Nach ihrem Ortswechsel wurde sie in den dortigen Betriebsrat gewählt. Schnell hätten sie die Gewerkschaft mit ins Boot geholt. Seitdem seien von 130 Kolleg*innen 20 Mitglied geworden. Um den gesamten Betrieb in ihrer Organisierung widerzuspiegeln, sei es aufgrund der Teilzeitquote notwendig gewesen, ein Netzwerk in der Freizeit aufzubauen. »Und ich zum Beispiel versuche mir selbst Schichten abwechselnd mal früh mal spät geben zu lassen, um mit allen in Kontakt zu sein«, so Vaternam. An den bisher drei Streiktagen habe sie die Kolleg*innen mutiger erlebt. »Es sind mehr Kolleg*innen auf der Straße. Sie bringen zum Ausdruck: ›Wir dulden diese Situation nicht mehr‹.«

Die nächste Verhandlungsrunde ist für den 18.8. angesetzt. Verdi-Verhandlungsführerin Weißbach befürchtet, dass es auch dann noch keine Einigung geben wird. Ähnlich sieht es Arbeitskampfexperte Dribbusch, der sich unter Gewerkschafter*innen umgehört hat: »Meiner Einschätzung nach wird sich die Tarifrunde noch in die Länge ziehen.«

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