Die Plebejer und ihr Lehrer

Eine Erinnerung an den Lyriker und Förderer der Poetenbewegung Reinhard Weisbach

  • Hans-Eckardt Wenzel
  • Lesedauer: 4 Min.
Es gab sie, die guten Lehrer: Reinhard Weisbach gehörte zu dieser besonderen Spezies.
Es gab sie, die guten Lehrer: Reinhard Weisbach gehörte zu dieser besonderen Spezies.

Der gute Lehrer ist mit seinem Wissen und Denken nur ein paar Tage oder Minuten seinen Schülern voraus. Er muss ständig dazulernen. Gedanken und Sätze schärfen sich erst im Augenblick des Dialogs mit seinen Schülern. Lernen und Lehren gehören zusammen. Jeder Moment ist besonders – wie in Konzerten oder Theateraufführungen –, weil jeder Schüler seine ganz besondere Art hat, an die Zukunft zu denken.

Die Geschichte der Menschheit ist auch die Geschichte ihrer Lehrer! Der kulturelle Zustand einer Gesellschaft ließe sich sehr genau daran abmessen. Diese Beschreibung wirkt heute wie aus der Märchenzeit. Seiteneinsteiger und überforderte Sozial- und Moralarbeiter tragen in den Schulen die Trümmer einer zersplitterten Gesellschaft durch die Gegend, ohne sehr viel Hoffnung auf Linderung und Lösung. Aber es gab Zeiten für die guten Lehrer, es gab sie, und diese guten Lehrer gibt es noch immer. Reinhard Weisbach gehörte zu dieser besonderen Spezies.

Im Juli wäre der Germanist, Literaturwissenschaftler und Mentor 90 Jahre alt geworden. Die Begegnung mit ihm gehört zu den wichtigen Momenten meines Weges. Auf der exzentrischen Bahn begegnen uns bisweilen Personen, die unsere Leben in eine andere Richtung lenken. Dazu gehört Reinhard Weisbach. Ich traf ihn in Petzow, im Schriftstellerheim. Unsere Gruppe Karls Enkel hatte die Möglichkeit, den Materialstand unserer neuen Produktion »Vorfahrt« aufzuführen. Ein Projekt, bei dem wir die Biografien unserer direkten Vorfahren beschreiben und betrachten wollten.

Die deutsche Geschichte war mit allen Facetten vertreten: Stalingrad, Auschwitz, Flüchtlingstreck, Neuanfang … Reinhard Weisbach war fasziniert. Er freute sich wie ein Kind, dass wir den Gang in die Geschichte ohne Bedenken unternommen hatten, mit ganz persönlichem Zugriff. Wir hatten vor dieser Zeit einigen Ärger, weil man sich nicht sicher war, ob wir Staatsfeinde waren oder Idioten. Weisbach schlug mit der Faust auf den Tisch. Es gehört auch zu den Aufgaben eines guten Lehrers, seine Schüler vor falschen Angriffen zu schützen.

Er analysierte unsere Texte stets als Frage, als sanfte Annäherung, und schließlich warf er das Wort »plebejisch« in die Runde, und es legte sich wie ein Schutzmantel über unsere Gruppe. Die ideologischen Scharfschützen waren verwirrt. Das war eine Dimension, mit der sie nicht so recht umzugehen wussten.

Weisbach interessierte der Gang ins Offene, der beherzte Zugriff, die Sinnlichkeit. Er bestärkte uns in unseren Plänen. Die Seminare verwandelten sich schnell in Gespräche zwischen Freunden. Wir lernten von seiner Haltung, seinem Gestus. Alle, die ihn auf dem Poetenseminar in Schwerin erlebt haben, schätzten das.

Weisbach war im November 1978 mit 45 Jahren ums Leben gekommen. Seine Beerdigung war die erste Totenfeier, auf der ich gesungen habe: »Wem die Sonne nicht mehr scheint, / kann die Liebe missen. / Wie viel Trauer um ihn weint, / braucht er nicht zu wissen.« Ein Text von Erich Mühsam.

Es ist unvorstellbar. Nicht nur, dass diese handfesten Piraten als alte Männer nicht geplant, nein, auch die Vorstellung, dass Reinhard Weisbach die Jahre von 1990 bis 2023 überleben hätte müssen, in konsequenter Ausgrenzung durch die neuen westlichen Eliten, machen das Gedankenspiel, er hätte das Jahr 1978 wie ein normales Jahr durchreist, sonderbar. Die verlorenen Chancen tauchen in solchen Momenten des Erinnerns schmerzhaft wieder auf.

Die guten Lehrer gibt es nur, wenn es eine gehörige Portion Hoffnung für die Zukunft gibt, wenn die kommende Zeit eine bessere sein soll und nicht wie in unserem Falle, die Mühen nur zu entfesseln, um das Schlechtere zu verhindern. In diesem Sinne bringt das Erinnern an den guten Lehrer Reinhard Weisbach auch ein wenig Licht in die vernebelten Gefilde unserer Gegenwart. Wenn wir diese frühen Freunde dem Vergessen anheimgeben, verlieren wir selbst ein Stück unserer Welthaftigkeit.

Im Oktober vorigen Jahres habe ich noch mit meinem Freund, dem Schriftsteller Angel Wagenstein, in Sofia auf seinen 100. Geburtstag trinken können. Vor wenigen Wochen ist er gestorben. Wie gerne hätte ich mit Reinhard Weisbach auf seinen 90. Geburtstag angestoßen.

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