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»Wer darf in die Villa Kunterbunt?«: Rassismus in Kinderbüchern

Lisa Pychlau-Ezli und Özhan Eli mahnen: Antikoloniale und antirassistische Erziehung beginnt in der Kinderstube

Er ist höchstens der Beifahrer, der Schwarze Mann; Illustration aus »Tim im Kongo« des belgischen Zeichners Hergé
Er ist höchstens der Beifahrer, der Schwarze Mann; Illustration aus »Tim im Kongo« des belgischen Zeichners Hergé

Es ist genau zehn Jahre her, als Deutschland eine leidenschaftliche Kinderbuchdebatte erlebte. Die Meinungen prallten aufeinander, entzweiten die Gemüter. Darf man sich an Klassikern der Weltliteratur vergreifen? Angestoßen hatte die Kontroverse der in Berlin lebende, damals 47-jährige Mekonnen Mesghena aus Eritrea, seit über 20 Jahren Bundesbürger, als Journalist tätig. Er las eines Abends seiner siebenjährigen Tochter Timnit aus Otfried Preußlers »Die kleine Hexe« vor, stutzte plötzlich bei einer Passage und beendete die Lektüre zur Enttäuschung der Kleinen, die natürlich wissen wollte, wie die spannende Geschichte weiterging. Der Vater erklärte dem Kind den Grund seiner Weigerung und schrieb sodann einen Brief an den Verlag. Alsbald erhielt er eine Antwort, eine unerwartete, enttäuschende. »Die kleine Hexe« sei 1957 geschrieben worden, als das Wort »Neger« nicht inkriminiert gewesen sei. Mesghena ließ nicht locker – mit Erfolg: Der damals 90-jährige Schriftsteller erlaubte dem Editionshaus, in Neuauflagen das N-Wort zu streichen. Andere Verlage folgten dem Beispiel.

Und doch ist die Debatte noch nicht ausgestanden. Der Schlagabtausch tobt zwischen Verfechtern der Kunstfreiheit und Streiter*innen für Wokeness (Sensibilität für insbesondere rassistische, sexistische Diskriminierung, soziale Ungleichheit etc.) und Verschwörungstheoretikern der Cancel-Culture-Front. Umso verdienstvoller ist, dass Lisa Pychlau-Ezli, studierte Germanistin, und der Politikwissenschaftler Özhan Ezli zurückblicken und den Ist-Zustand analysieren. Ihr Antrieb und Ansatz: »Schon zu lange fokussiert man sich, wenn man über Rassismus spricht, auf die Personen, die diskriminiert werden, statt auf jene, die diskriminieren.« Das Autorenduo will den Fokus auf weiße Menschen richten, die vielfach zwar der Überzeugung sind, keine Rassisten zu sein, und sich doch als rassistisch sozialisierte Personen unbewusst so verhalten. Das fängt in der Kinderstube an.

Lisa Pychlau-Ezli und Özhan Eli konzentrieren sich auf Kinderbücher, die nicht nur veraltet und überholt sind in Zeiten von Black Lives Matter, #meetoo, #saytheirnames und anderen gesellschaftlichen Initiativen und Bewegungen, sondern abwertende Begriffe sowie Stereotype aus kolonialen Kontexten weeiterhinn kolportieren, wie etwa über Afrika als ein homogenes, von wilden Tieren und unzivilisierten, hilflosen Menschen mit angeblich besonders ausgeprägtem Sexualtrieb besiedelter Kontinent. Nicht nur, dass sie immer gleich gezeichnet werden, mit krausem Haar, großen Lippen, platter Nase. Sie erscheinen in älteren Kinderbüchern als zum Dienen und Gehorchen geboren, unselbstständig, anleitungs- und hilfebedürftig, die bevormundet werden müssten. Und die obendrein geschichtslos seien. Demagogische, aber auf fruchtbaren Boden fallende Lügen. Nicht nur, dass auf dem afrikanischen Kontinent sich die Wiege der Menschheit befand, dort entstanden und entfalteten sich (neben dem Industal) die ersten Hochkulturen. Diese irrigen Vorstellungen von Schwarzen Menschen dokumentieren exemplarisch der »Sarotti-Mohr«, aber auch »Uncle Ben's« und »Aunt Jemima«. Der Schokoladenproduzent entschloss sich im Zuge der postkolonialen Diskussion um die Millenniumswende, seine Werbefigur in »Sarotti-Magier der Sinne« umzubenennen und umzugestalten: Statt eines Tabletts in der Hand jongliert die auf einer Mondsichel balancierende Figur mit goldener Gesichtsfarbe, aber weiterhin mit Turban und Harems-Hose bekleidet, nun mit goldenen Sternen. Die Firma »Uncle Ben’s« wurde zum Umdenken erst mit dem gewaltsamen Tod von George Floyd gezwungen.

Sehr wichtig ist der Hinweis der Autoren, dass die »Hilfsbedürftigkeit« einiger Länder der sogenannten Dritten Welt erst durch die weißen Kolonisatoren verursacht worden ist. »Bevor die Kolonisation die sozialen, gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Strukturen der ›Drittweltländer‹ zerstört haben, kamen diese Länder auch prima ohne ›Hilfe‹ zurecht.« Festzustellen wäre in diesem Kontext auch, dass auch die »Entwicklungshilfe« westlicher Staaten für afrikanische Staaten eigentlich nichts anderes als Almosen sind, scheinheilige Gesten in der Tradition von Missionaren und Kolonisatoren, so diese mal nicht mit Schwertern und Kanonen den unterworfenen Völkern »Zucht und Ordnung« beibringen wollten.

Einführend gibt es von den Autoren erst einmal einen theoretischen Exkurs. Es werden Begriffe diskutiert wie Biologismus und Rassismus, White Gaze (Weißsein als Standard) und Whitewashing (Weiße in Rollen Schwarzer). Es folgt eine Analyse des Rassismus in Deutschland. Obwohl 26 Prozent der hierzulande lebenden Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund haben, also jeder Vierte, sind nach wie vor Vorurteile, Klischees oder gar Feinbilder virulent. Der erste Afrozensus 2020, an dem sich 6000 schwarze Menschen beteiligten, bezeugt regelmäßige Rassismuserfahrungen im Alltag, schon in Kita, Kindergarten und Grundschule. Schwarze Menschen stehen eher im Verdacht, kriminell zu sein, werden beispielsweise von Polizisten eher auf Drogen durchsucht als weiße Bundesbürger. Lisa Pychlau-Ezli und Özhan Eli können aber auch von Erfolgen berichten. So wurden dem Online-Projekt »Tear this down« innerhalb von 24 Stunden nach seiner Freischaltung 270 Straßennamen und Denkmäler in der Bundesrepublik mit kolonialem Hintergrund gemeldet; viele sind inzwischen umbenannt.

Doch zurück zur Kinder- und Jugendliteratur. Als Paradebeispiel für den Gegenstand ihrer Kritik gilt dem Autorenduo Daniel Defoes Roman »Robinson Crusoe«, 1719 erstmals erschienen und so erfolgreich, dass Defoe noch im selben Jahr eine Fortsetzung schreiben musste und damit ein neues literarisches Genre begründete, die sogenannten Robinsonaden. Auch wenn der gestrandete weiße Seemann Robinson und der »Eingeborene« Freitag Freunde sind, so ist das Verhältnis zwischen beiden klar definiert: Held und Herr der eine, Feigling und Diener der andere, womit dieser Bestseller das Narrativ von der Überlegenheit weißer Menschen (White Supremacy) bei gleichzeitiger Abwertung der »schwarzen Rasse« beförderte. Indigenas werden als Wilde und Kannibalen stigmatisiert, ohne Anstand und Moral. Gleiches trifft auf den Roman »Robinson der Jüngere« (1780) des Pädagogen und Schriftstellers Joachim Heinrich Campe zu.

Das Konstrukt des Befremdlichseins von Menschen anderer Hautfarbe entdecken Lisa Pychlau-Ezli und Özhan Eli auch in »Struwelpeter« des Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann von 1844 und in »Max und Moritz« von Wilhelm Busch, 1865 erstveröffentlicht, des Weiteren bei »Tim im Kongo«, »Lucky Luke« und »Asterix und Obelix«. Ist in einigen Büchern eine Korrektur relativ leicht und nachvollziehbar (und geboten!) zu bewerkstelligen, wie etwa bei »Pippi Langstrumpf« von Astrid Lindgren, wo aus dem »Negerkönig« ein »Südseekönig« wurde, bedürfte es bei anderen Titeln eines völligen Umschreibens der Geschichte. Da wäre ein Nichtwiederauflegen – freilich ohne sie auf den Index zu setzen – ehrlicher.

Das Autorenduo vermerkt, dass nach einer 2019 durchgeführten Umfrage des Allensbacher Instituts 41 Prozent der Befragten Eingriffe in Kinderklassiker für übertriebene Political Correctness hielten. Als die ersten Kinderbuchverlage Redigate wagten, ergoss sich über sie ein Shitstorm in sozialen Netzwerken. Eine noch harmlose, besonders häufige Abwehrreaktion lautet, die als diskreditierend oder gar volksverhetzend empfundenen Textstellen seien »nicht böse gemeint«.

Zum Schluss gibt es noch Ratschläge an Eltern. Die Autoren räumen ein, »leider keine Patentlösung« bieten zu können, warnen aber eindringlich: »Kindergarten- und Grundschulkindern ›Pippi in Taka-Tuka-Land‹ vorzulesen, halten wir für fahrlässig.« Sie verweisen auf jüngst erschienene Bücher, die hilfreich für eine antirassistische Aufklärung seien. »Deutschsprachige Publikationen zu diesem Thema gibt es bisher allerdings noch nicht viele.« Empfohlene Titel sind: »Wie erkläre ich Kindern Rassismus« von Josephine Apraku und »Rassismus geht uns alle an« von Josephine Apraku und Jule Bönkost, und für Kita-Kids »Was ist Rassismus?« von Katie Daynes und Jordan Akpojaro sowie »Steck mal in meiner Haut« von Saskia Hödl.

Um Eltern die Entscheidung beim Kauf von Büchern für den Nachwuchs zu erleichtern, schlagen Lisa Pychlau-Ezli und Özhan Eli dem professionellen Literaturbetrieb vor, Kinderbuchklassiker in einer kommentierten Fassung zu publizieren oder diversitätssensible und rassismusfreie Bücher durch ein Siegel oder Prädikat zu würdigen, hingegen diskriminierende und rassistische mit einer Triggerwarnung zu kennzeichnen. Letztlich jedoch hilft nur eins: »Einen kritischen Blick auf die Literatur im eigenen Kinderzimmer, im Kindergarten, im Deutschunterricht, in der Stadtbibliothek zu werfen, ist eine Sache, die jeder Einzelne ganz konkret sofort gegen Rassismus tun kann. Nur wenn wir allen weißen Kindern aktiv im Alltag nahelegen, schwarze Menschen nicht als unterlegen, exotisch und ›anders‹ wahrzunehmen, sondern als genauso ›normal‹ wie weiße Menschen, kann Rassismus langfristig aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt werden.«

Eine Anmerkung zu dem Buch sei hier noch gestattet: Die Aufklärung oder die Aufklärer für den im 18. Jahrhundert sich ausbreitenden und institutionalisierenden Rassismus verantwortlich zu machen, geht fehl. Man denke nur an Johann Gottfried Herder, der im Sinne des Kennenlernens der Kulturen »Lieder der Völker« sammelte, oder Gotthold Ephraim Lessing, der mit seinem »Nathan der Weise« Toleranz zwischen den drei großen Weltreligionen, zwichen Morgenland und Abendland einforderte. Selbst die von Lisa Pychlau-Ezli und Özhan Eli explizit genannten Philosophen Immanuel Kant (»Ewiger Frieden«) und Friedrich Nietzsche (»Zarathustra«) können nicht für nachfolgende »Rassenforschung« und rassistische Morde bis heute in Haft genommen werden.

Noch eine kleine Ergänzung: Ein beliebtes Kinderbuch in der DDR war »Neger Nobi« (1955) von Ludwig Renn, der eigentlich Arnold Vieth von Golßenau hieß und aus sächsischem Adel entstammte, Interbrigadist im Spanienkrieg und Emigrant in Mexiko war, von den Nazis doppelt bedroht, als Kommunist und Homosexueller. Ab der achten Auflage erschien sein berühmtestes Kinderbuch unter dem Titel »Nobi«. Das war 1962 – als in der Bundesrepublik Rassismus und koloniales Denken nicht nur an Stammtischen ausgetobt wurden. Der zweite deutsche Staat war ergo nicht nur in seiner Unterstützung für nationale Befreiungsbewegungen gegen Kolonialismus und Apartheid eindeutig fortschrittlicher.

Lisa Pychlau-Ezli/Özhan Ezli: Wer darf in die Villa Kunterbunt? Über den Umgang mit Rassismus in Kinderbüchern. Unrast, 310 S., br., 18 €.

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