- Reise
- Japanische Festung in der Mandschurei
Das letzte Gefecht des Zweiten Weltkriegs
Ein Besuch in der einstigen japanischen Festung Hutou am Ussuri im äußersten Nordosten Chinas
Die kleine Chinesin zittert wie Espenlaub. Der Hosenanzug aus blauem Stoff ist zwar schick, aber dünn. Auch uns ist kalt. Aber wir wissen: In diesem Leben kommen wir vermutlich nie wieder hierher, also müssen wir jetzt jeden zugänglichen Schacht und jeden Tunnel besichtigen. Eigentlich sollten wir aus Mitleid nach oben steigen, ins Freie. Dort ist es ein paar Grad wärmer als in diesem unterirdischen Labyrinth. Stattdessen lassen wir die Finger über die Einschusslöcher in der Wand gleiten und unterdrücken unser Mitgefühl. Damals werden die Temperaturen in diesem »Kühlschrank« kaum anders gewesen sein. Wie konnte man es hier nur wochenlang aushalten?
Wir betrachten die seit fast achtzig Jahren vor sich hin rostenden Kessel in der Küche, die einstigen Vorratskammern und die Reste des Bades. An den Wänden sind die Haken zu sehen, zwischen denen die Soldaten ihre Schlafstätten zurrten. Und hinter Gittern liegen rostigbraune Granaten und andere Mordwerkzeuge, mit denen signalisiert werden soll, dass hier ein Munitionsdepot war. Ab und an geht ein Blick nach oben: In dem Schacht konnte damals ein Mann auf eisernen Haken nach oben steigen, um zu observieren, was draußen, vor der unterirdischen Festung, passierte ...
Es ist still. Nur die Wassertropfen verursachen Geräusche, wenn sie in die Pfützen auf dem Betonboden fallen. Sonst herrscht Friedhofsruhe. Das Wort trifft es, hier verloren rund dreitausend Soldaten ihr Leben. Die eine Hälfte waren Japaner, die andere Russen. Am Ende, nach siebzehn Tagen Kampf, ergaben sich 53 Japaner – die anderen waren alle tot. Es war der 26. August 1945. Japans Kaiser Hirohito hatte elf Tage zuvor im fernen Tokio die bedingungslose Kapitulation seiner Truppen erklärt. Hier aber, in der Festung Hutou, war weiter geschossen und waren weiter Bajonette in die Leiber der Gegner gerammt worden. Unklar ist, ob die Soldaten nicht erfuhren, dass auch in Asien der Zweite Weltkrieg zu Ende war, oder ob fanatischer Irrsinn sie daran hinderte, die Waffen zu strecken.
Die zierliche Chinesin mit den quadratischen Brillengläsern zittert. Wir schauen ungläubig auf die kahlen Wände und deren Narben. Wir kennen solche aus dem Osten Berlins. Dort weisen noch immer etliche Häuser Wundmale des Frühjahrs ’45 auf, sind noch nicht hinter glatten und farbig leuchtenden Fassaden verschwunden. Jeder Einschuss erinnert an die barbarische Vergangenheit. Dort wie hier.
An den Wänden verlaufen wenige Kabelbahnen, durch die der Strom fließt. Die alten Lampen werfen nur schwaches Licht. Es ist düster und feucht und eben kalt. Nach fast zwei Stunden und zweitausend Metern klimmen wir mit steifen Gliedern ins Freie. Erleichtert lächelt die Chinesin. Von Nord weht kalter Wind über den Ussuri. Drüben ist Sibirien.
Auf der Spitze des Felsens mit der unterirdischen Festung erhebt sich ein weißer Obelisk. Zu seinen Füßen liegen vertrocknete Blumen. Es muss schon geraume Zeit her sein, dass hier jemand jene würdigte, die auf der eisernen Tafel gerühmt werden: den Generalissimus Stalin und die tapferen Rotarmisten der 1. Fernostfront.
Ringsum, zwischen den jetzt hohen Bäumen, sind zerbröselnde Fundamente zu sehen. Auf diesen standen einst japanische Geschütze. Die Sowjettruppen nahmen sie mit, als sie sich wieder hinter ihre Grenze zurückzogen. Niemand wusste, wohin sich China nach dem Krieg politisch entwickeln würde. Auch Moskau nicht. Die Kanonen wollte man nicht auf sich gerichtet wissen.
Abkommen auf der Krimkonferenz
Stalin hatte sich im Februar 1945 von Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill im Liwadija-Palast zu Jalta überzeugen lassen, in den Krieg gegen das japanische Kaiserreich einzutreten, den die Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition schon seit vier Jahren führten. Stalin zögerte aus zwei Gründen: Erstens würde er damit das im April 1941 mit Japan geschlossene Neutralitätsabkommen brechen. Mit jenem völkerrechtlichen Vertrag waren die seit zehn Jahren – seit der Okkupation Nordostchinas durch Japan – geführten Grenzkonflikte und -kriege beendet worden und er hatte die Sowjetunion nach dem Überfall Hitlerdeutschlands vor einem Zwei-Fronten-Krieg bewahrt. Und zweitens war die Rote Armee durch die Befreiung halb Europas vom Faschismus objektiv derart geschwächt, dass Moskau Mühe hatte, nun Krieg in Asien zu führen.
Andererseits fühlte sich Stalin in der Pflicht, um nicht zu sagen: in der Schuld, den Angloamerikanern zu helfen. Diese hatten, wenn auch spät, mit der Eröffnung der zweiten Front im Sommer 1944 die Sowjetunion entlastet. Und so sicherte Stalin den Alliierten zu: Drei Monate nach dem gemeinsamen Sieg über Nazideutschland werde die Rote Armee gegen Japan marschieren.
Auf den Tag genau, am 9. August, eröffnete Moskau den Krieg gegen das faschistische Japan. Der Feldzug gegen die Kwantung-Armee bekam später von Militärhistorikern die Bezeichnung »Operation Auguststurm«. Binnen vier Wochen vertrieben etwa anderthalb Millionen Sowjetsoldaten die japanischen Besatzer aus Nordchina und Korea, von der Insel Sachalin und dem »Archipel der tausend Inseln«, den Kurilen.
Dass die US-Amerikaner am 9. August auf Nagasaki eine Atombombe warfen, nachdem sie bereits drei Tage zuvor Hiroshima auf gleiche Weise ausgelöscht hatten, war gewiss kein Zufall. Die USA wollten den Russen ihre Grenzen und auch das künftige Erpressungsinstrument zeigen. US-Präsident Harry S. Truman hatte in Potsdam den Befehl zum Abwurf erteilt und dies Stalin mit einer gewissen Süffisanz wissen lassen. Der reagierte betont ruhig auf die Mitteilung, was Truman augenscheinlich verärgerte, denn er teilte die demonstrative Gelassenheit von »Uncle Joe« – eine Bezeichnung für Stalin im Westen – seinem Tagebuch mit.
Hier also, in der Region Hulin in der Festung Hutou, wurde die letzte Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Asien geschlagen. Gäbe es nicht diesen fantastischen Museumsbau am Fuße des Festungshügels mit dem weiten Platz davor, den eine imposante Denkmalanlage abschließt, würde der Besucher kaum etwas von dieser gewaltigen unterirdischen Festungsanlage erfahren. Ein Zehntel des Tunnelsystems kann besichtigt werden, neun Zehntel bleiben den Besuchern verschlossen. Aber zweitausend Meter reichen vollauf, um den Schauder zu spüren.
Marionettenstaat und Erzlager
Die japanische Kwantung-Armee hatte 1931 die Mandschurei besetzt und dort mit Chinas letztem Kaiser den Marionettenstaat Mandschukuo installiert – fast eine Million Quadratkilometer groß, zweieinhalbmal so groß wie Deutschland heute: das Öl-, Kohle- und Erzlager Japans, das über keine eigenen Bodenschätze verfügte.
In der Grenzregion ließen die Japaner auf dreißig Kilometer Länge und in einer Tiefe von zwölf Kilometern unterirdische Festungsanlagen in den Fels hauen. Die größte war diese hier in Hutou, die die Japaner binnen sechs Jahren aus dem Boden stampfen ließen. Erst mit Freiwilligen, dann mit Zwangsarbeitern, schließlich mit Kriegsgefangenen. Zehntausende Arbeitssklaven starben unter der Fron, die Überlebenden wurden als Zeugen ermordet.
Hutou war aus strategischen Gründen gewählt worden. Die Festung, die sie »Koto« nannten, war durch die 1935 von den Japanern angelegte Hulin-Bahn von Harbin aus direkt erreichbar. In Harbin befand sich u. a. das Hauptquartier der berüchtigten Einheit 731. Und von hier aus, vom Berg Hudong, konnte man mit bloßem Auge jenseits des Grenzflusses die Ussuri-Eisenbahn sehen, also beschießen. Das Gleis verband Chabarowsk im Norden mit der Hafenstadt Wladiwostok im Süden und ist als Transib bekannt.
In ihrer Kriegspropaganda nannten die Japaner den Festungsgürtel am Rande ihrer Kolonie die »Maginot-Linie in der östlichen Version«. Mit dem Zusatz natürlich, dass dieser den Grenzwall zwischen Frankreich und Deutschland bei Weitem überträfe. Den Größenwahn teilten die japanischen mit den deutschen Faschisten. Allerdings unterschlugen sie ein wesentliches Faktum: Die Franzosen wollten sich vor einem Angriff ihres östlichen Nachbarn schützen – die Japaner hingegen von diesem Festungssystem mit den 17 Stützpunkten aus ihren Einmarsch in die Sowjetunion starten. Das angebliche Verteidigungssystem war in Wahrheit ein Angriffssystem.
Der Eingang in den modernen Museumsbau gleicht einer Felsspalte. Man hat auch sonst Mühe hineinzukommen: Der Pass wird gewissenhaft geprüft, der Besucher ermahnt, nicht die Kamera zu benutzen (gegen den Einsatz des Handys hingegen hat man nichts). In einer Halle sind die Porträtbüsten jener sieben Männer und einer Frau zu sehen, deren Standbilder draußen vor dem Denkmalsockel der Kälte trotzen. Der Zweite von links ist Kim Il-sung, der später Staats- und Parteichef wurde. Er hatte mit koreanischen Partisanen gegen die Japaner gekämpft, 1941 einen Kommandeurslehrgang der Roten Armee bei Wladiwostok besucht und als Bataillonskommandeur in der 2. Fernostfront der Sowjetarmee gedient. Kim Il-sungs Kopf fehlt bei den Büsten. Auf unsere Nachfrage heißt es: Der Platz habe gefehlt. Natürlich, was sonst.
In den Ausstellungsräumen findet sich alles, was man in einem solchen Museum erwartet: Dokumente, Exponate, Installationen, Videos, Karten. Auch über die rund zweihunderttausend Arbeitssklaven, die über die Jahre verteilt für die japanischen »Herrenmenschen« hier schufteten, erfährt man sehr viel. Vernichtung durch Arbeit. Die Erklärungen auf den Tafeln sind dreisprachig: chinesisch, englisch, russisch.
Wachhalten der Erinnerung
Wir fahren anschließend eine kurze Strecke mit dem Auto. »The Memorial Park of World War II Ending Place« ist zweisprachig in Stein gemeißelt, 2004 wurde die Denkmalanlage übergeben. Plastiken mit diversen Kampfszenen säumen links und rechts die den Hügel ansteigenden Treppen. Auf Steinen wird mit Inschriften an einzelne Ereignisse erinnert, auch an die »Achse des Bösen« (»Evil Axis«), den Antikomintern-Pakt, den Berlin und Tokyo am 25. November 1936 schlossen und dem später auch Rom beitrat. Und gleichfalls des 7. Juli 1937 wird gedacht, als an der Marco-Polo-Brücke in Beijing der Zweite Weltkrieg in Asien begann.
Texte auf schwarzen Marmortafeln rund um die Säule, auf der eine Frau die Friedenstaube in den Himmel reckt, repetieren die Geschichte. Die letzte Schlacht des Krieges (»The Final Battle«) wird detailliert beschrieben. Und in goldenen Lettern schließlich heißt es am Fuß der Säule, dass hier am 26. August 1945 der Zweite Weltkrieg endete. »Vergesst niemals die Vergangenheit! Bewahrt den Frieden und schafft eine hellere Zukunft!« Die Schrift ist ein wenig verblasst. Die Mahnung aktueller denn je.
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