- Politik
- Friedensverhandlungen in Kolumbien
Kolumbien wird ohne Sozialreformen zerrissen
José Benito Garzón organisiert die gesellschaftliche Beteiligung bei den Friedensverhandlungen mit der ELN
Das Unbehagen mit seiner Situation ist dem quirligen 50-jährigen José Benito Garzón ins Gesicht geschrieben: Da ist der Kolumbianer, der seit seiner frühesten Jugend in linken Basisbewegungen aktiv ist, nach langer Vorbereitungszeit endlich in Europa, um über die politische Situation in seinem Land zu informieren, und dann setzt ihn ein profaner Fahrradunfall außer Gefecht. »Eigentlich stand das Rad schon, als ich runtergefallen bin«, erzählt er mit einem selbstironischen Lächeln. Die Diagnose, die ihm in einem Schweizer Krankenhaus am nächsten Tag übermittelt wurde, fiel denn aber doch etwas ernster aus: mehrfacher Schlüsselbein- und Rippenbruch. Beim Gespräch mit »nd« trägt Garzón auch zwei Wochen nach dem Unfall noch eine Arm-Schulter-Orthese.
Dass Garzóns Gesundheit ausgerechnet in der Schweiz in Mitleidenschaft gezogen wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Als Aktivist der außerparlamentarischen Linken ist der Kolumbianer in den vergangenen 35 Jahren fast ununterbrochen mit der Gewalt paramilitärischer Gruppen konfrontiert gewesen. »Und ausgerechnet jetzt, da ich in einem der sichersten Länder der Welt bin, breche ich mir fast den Hals.«
Garzón ist auf Einladung der eidgenössischen Regierung in der Schweiz, die die Friedensverhandlungen zwischen der marxistischen ELN-Guerilla und der kolumbianischen Regierung unter Präsident Gustavo Petro unterstützt. Seit Anfang August herrscht ein Waffenstillstand zwischen den beiden kolumbianischen Kriegsparteien, der mit internationaler Hilfe überwacht wird. José Benito Garzón seinerseits ist von der ELN als Sekretär in ihre Verhandlungskommission berufen worden, um die Beteiligung der kolumbianischen Zivilgesellschaft am Friedensprozess zu garantieren. »Die Position von mir und den anderen Sekretär*innen ist ein bisschen kompliziert«, erklärt er. »Wir sind keine ELN-Mitglieder, sondern arbeiten der Verhandlungskommission zu.« Bei dieser Arbeit gingen er und seine Kolleg*innen, die allesamt aus sozialen Bewegungen kommen, ein erhebliches Risiko ein. »Wenn der Friedensprozess scheitert, rücken wir ins Fadenkreuz der Repression. Denn die Gegner der Verhandlungen identifizieren uns natürlich mit der Guerilla.«
Obwohl in Kolumbien gerade erst ein Friedensprozess krachend gescheitert ist, zeigt sich Garzón sehr von seiner Arbeit überzeugt. Das 2016 unterzeichnete Abkommen zwischen der kommunistischen FARC-Guerilla und dem damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos, in dem es vor allem um die politische Teilhabe der demobilisierten Guerilla ging, hat den bewaffneten Konflikt in Kolumbien nicht beendet. Zahlreiche Ex-Guerilleros haben sich sogenannten FARC-Dissidenzen angeschlossen, in vielen ländlichen Gebieten ist die Gewalt schlimmer denn je.
Doch Garzón ist überzeugt, dass sich das Verhandlungskonzept der ELN grundlegend von dem der FARC unterscheide. »Die ELN strebt keine Sitze im Kongress an und will anders als die FARC auch nicht bilateral mit dem Staat verhandeln. Stattdessen soll sich die kolumbianische Gesellschaft selbst in einem großen Dialog über die notwendigen strukturellen Reformen verständigen.« 81 soziale Organisationen hätten dafür das sogenannte Comité Nacional de Participación gegründet – das Nationale Beteiligungskomitee, das in den kommenden zwei Jahren eine Reformagenda erarbeiten solle.
Der zweite große Unterschied bestehe darin, dass bei den Verhandlungen mit der ELN jeder einzelne Punkt, über den Einigkeit erzielt wird, auch sofort umgesetzt werden soll. »Der Gedanke dahinter ist«, erläutert Garzón, »dass sich der bewaffnete Konflikt in Kolumbien nur beenden lässt, wenn ihm nach und nach die Grundlagen entzogen werden. Es gibt kein großes Schlussabkommen, sondern einen Prozess der Entmilitarisierung.«
Die dritte Differenz schließlich sei, dass es diesmal keine roten Linien bei den Verhandlungen gebe. »Die Santos-Regierung hat bei den Verhandlungen mit den FARC zwischen 2012 und 2016 festgelegt, dass die Sozial- und Wirtschaftspolitik nicht verhandelbar ist. Das war natürlich ein grundlegender Konstruktionsfehler. Der Krieg in Kolumbien hat soziale und wirtschaftliche Ursachen. Wie soll er beendet werden, wenn man genau diese Ursachen ausklammert?«
Garzón weiß, wovon er spricht, wenn er auf die soziale Zerrissenheit seines Landes anspielt. Heute ist der politische Aktivist zwar promovierter Historiker mit Forschungsschwerpunkt »Städtische soziale Bewegungen und Geschichte der Armenviertel«, doch aufgewachsen ist er in ärmsten Verhältnissen und sein Studium hat er sich mit Jobs selbst finanzieren müssen. 1974 geboren, wuchs Garzón als siebtes von acht Kindern bei einer allein erziehenden Mutter in einem Slum im Süden der Hauptstadt Bogotá auf. Ab seinem siebten Lebensjahr ging er auf eigenen Wunsch nach der Schule arbeiten. Die Mutter, die großen Wert auf die Schulausbildung legte, habe das nur erlaubt, wenn die Noten gut genug waren. Doch die Kinder wollten unbedingt etwas zum Haushaltseinkommen beitragen.
Politisiert worden sei er dann durch kirchliche Basisgruppen, erzählt Garzón. Kolumbien, wo sich nach dem legendären Camilo Torres noch eine ganze Reihe Priester der Guerilla anschlossen, galt lange als Bastion des revolutionären Christentums. »Bei uns gab es eine Stadtteilgruppe, in der ich mit der Befreiungspädagogik in Berührung gekommen bin – allerdings, ohne zu wissen, was Befreiungspädagogik ist«, erzählt Garzón mit einem wehmütigen Lächeln. Die linken Christ*innen hätten, anders als die traditionelle Linke, Wert darauf gelegt, dass die Armutsbetroffenen eigene Forderungen und Vorstellungen entwickeln. Ihr Bildungsansatz war deshalb immer etwas antiautoritärer als der der traditionellen Linken.
Das ist wohl auch ein Grund, warum sich Garzón der Basiskirche immer noch verbunden fühlt. »Obwohl ich mit 20 bei den Franziskanern war, glaube ich mittlerweile nicht mehr an Gott und bin auch nicht mehr in der Kirche. Trotzdem hat mich die Befreiungstheologie geprägt. Das waren Leute, die immer gemacht haben, was sie sagen, und immer gesagt haben, was sie machen.«
Nicht allzu überraschend ist vor diesem Hintergrund auch, dass Garzón in den vergangenen 30 Jahren vor allem in der Menschenrechtsarbeit aktiv gewesen ist. Er hat in Kriegsgebieten die Opfer von Armee und Paramilitärs begleitet. »Der kolumbianische Staat hat systematisch Krieg gegen die Selbstorganisierung der Armen geführt. Er hat bewaffnete Gruppen aus dem Umfeld der Drogenkartelle systematisch eingesetzt, um Bauernorganisationen und Gewerkschaften zu zerschlagen. Das war auch ökonomisch lukrativ. Mindestens vier Millionen Bauern sind seit den 1980er Jahren von Paramilitärs vertrieben worden – das Land ist dann fast immer in den Händen von Großgrundbesitzern gelandet.« Dass der kolumbianische Bürgerkrieg nicht nur mit Drogenhandel, sondern vor allem auch mit Klasseninteressen zu tun hat, bleibt in der Berichterstattung in der Regel ausgeblendet.
José Benito Garzón ist in diesem Zusammenhang selbst immer wieder mit dem Tode bedroht worden. Das letzte Mal im vergangenen Winter, als er mit Gleichgesinnten in der Stadt Cali ein Meinungstribunal – eine Art symbolischen Gerichtsprozess – gegen die Polizei organisierte. Allein im Armenviertel von Siloé im Westen Calis sind bei Sozialprotesten 2021 etwa 20 Jugendliche von der Polizei erschossen worden. »Teilweise haben Scharfschützen der Polizei aus Hubschrauben das Feuer auf die Demonstranten eröffnet«, berichtet Garzón. »Kein einziger Uniformierter ist dafür zur Rechenschaft gezogen worden, aber noch immer sitzen mehr als 100 Protestierende im Gefängnis.«
Der Fall zeigt, dass die Kräfte in Kolumbien auch nach der Wahl der Linksregierung im August 2022 ungleich verteilt sind. Präsident Gustavo Petro und seine Stellvertreterin Francia Márquez kommen zwar aus der Linken – Petro war als junger Mann politischer Kader der M19-Guerilla, und die 41-jährige Afrokolumbianerin Márquez hat in ihrer Gemeinde den Widerstand gegen die Vertreibung durch einen britischen Bergbaukonzern organisiert. Trotzdem handele es sich nicht um eine Linksregierung, betont der Historiker und Menschenrechtsaktivist Garzón. »Um die Wahlen zu gewinnen, hat Petro schon im Vorfeld Bündnisse mit der politischen Mitte und Teilen der Rechten schließen müssen. Er hat Liberale und Konservative in eine Koalition eingebunden, indem er die Korruptionslogik der traditionellen Parteien bedient hat. Sprich: Er hat ihnen politische Posten angeboten.« Doch als Petro Anfang 2023 mit der Gesundheits-, Arbeitsmarkt- und Rentenreform an den Verteilungsverhältnissen zu kratzen begann, sei die Koalition sofort zerbrochen.
Garzón verteidigt die Haltung von Präsident Petro. »Es war bemerkenswert, dass er die Koalition platzen ließ, als seine Koalitionspartner die Sozialreformen blockierten. Andere Präsidenten hätten zur Rettung ihrer Regierung stillschweigend ihre Reformagenda geopfert. Mit dem Auswechseln der Minister*innen hat Petro zumindest klar gemacht, wie es um die Regierung steht.« Wie viele andere Linke hebt auch Garzón den paradoxen Charakter der aktuellen Situation hervor. Die Regierung sei gewählt worden, um strukturelle Sozialreformen durchzusetzen, besitze aber nicht die Macht, um dies zu tun. Und die Aussichten seien auch alles andere als günstig. »Die privaten Medienkonzerne und die Rechten in der Justiz organisieren jede Woche einen neuen Skandal, um die Regierung zu destabilisieren. Wenn der Präsident davon spricht, es gebe einen ›weichen Putsch‹ gegen ihn, trifft das die Sache schon ganz gut.«
In diesem Zusammenhang könnte der Friedensprozess mit der ELN denn doch noch größere Bedeutung erlangen. »Die Rechte ist kein homogener Block, und es gibt Teile der Oberschicht, die ein Interesse an der Beendigung des bewaffneten Konflikts haben«, meint Garzón. »Es ist vorstellbar, dass sie zugunsten einer Friedenslösung soziale und politische Zugeständnisse machen.« Auf die Frage, ob die ELN-Guerilla, die in den internationalen Medien kaum noch Erwähnung findet, dafür nicht zu unbedeutend sei, antwortet Garzón mit einer abwägenden Geste. »Einem aktuellen Geheimdienstbericht zufolge ist die ELN seit 2016 von knapp 4000 auf 8000 Kämpfer*innen gewachsen. Und außerdem hat sie sich immer eher als politische Organisation denn als Armee begriffen.« Der Einfluss der ELN werde möglicherweise unterschätzt, die meisten ihrer Mitglieder seien in gesellschaftlichen Organisationen und nicht in der Guerilla aktiv.
Einen Blick in die Glaskugel will der Kolumbianer, der viel lacht, wenn es nicht gerade um Politik geht, aber nicht wagen. Auf der einen Seite habe der Volksaufstand, der Kolumbien 2021 während der Corona-Pandemie zwei Monate in Atem hielt und insbesondere von nicht organisierten Jugendlichen aus den Armenvierteln getragen wurde, deutlich gemacht, dass das Land ohne Sozialreformen zerrissen wird. Andererseits tendiere die Bereitschaft der Oberschicht, eine Umverteilung des skandalös konzentrierten Reichtums hinzunehmen, gegen Null. Ob Petro ähnlich wie die Linksregierungen Paraguays, Brasiliens oder Boliviens durch einen Komplott der politischen Klasse gestürzt wird oder dank der Basisbewegungen doch noch die eine oder andere Reform durchsetzen kann, weiß im Augenblick niemand zu sagen. José Benito Garzón nimmt es gelassen. »Wir kolumbianische Linke sind so viele Jahrzehnte in einer schwierigen Situation – das gehört für uns schon zum Alltag.«
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