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Peenemünde: Eine janusköpfige Vergangenheit
Von Peenemünde aus startete die erste Rakete ins Weltall – mit der »V2«, einer vom NS-Regime ersehnten »Wunderwaffe«
Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom: Der blau-weiße Triebwagen der Bäderbahn braucht von Heringsdorf eine knappe Stunde, um hier in den Nordwesten der Insel zu gelangen. Zuletzt geht es vorbei an tristen Mietshäusern: mit Graffitis besprayt, vom Vandalismus heimgesucht, die Fassaden blättrig. Nicht einmal 300 Einwohner hat die Gemeinde – noch. Die Abwanderung aus dem nordwestlichen Zipfel der Insel scheint unaufhaltsam. Dabei war und ist Usedom ein beliebtes Urlaubsziel: das Nizza der Ostsee. Knapp eine Million Gäste aus dem In- und Ausland kommen in die Kaiserseebäder Heringsdorf, Bansin und Ahlbeck. Doch in Peenemünde ist davon nicht viel zu spüren: ein Ort ohne Baedeker Stern und boomende Tourismusindustrie.
Einst war Peenemünde ein geschichtsträchtiger Ort mit militärischer Tradition: König Gustav Adolf von Schweden landete hier 1630 während des Dreißigjährigen Krieges. Die Rote Armee, die Nationale Volksarmee der DDR und die Bundeswehr waren hier stationiert. Zwischen 1936 und 1945 entstand in Peenemünde eines der modernsten Technologiezentren der Welt – und zugleich eines der größten Rüstungsprojekte. Hier ließ das NS-Regime die erste Militärrakete entwickeln, die sogenannte »Vergeltungswaffe 1 und 2«, wie sie in der Goebbelsschen Propagandasprache beschönigend hießen.
Zeitweise arbeiteten bis zu 15 000 Menschen auf dem riesigen Gelände der Heeresversuchsanstalt. Darunter Wissenschaftler und Ingenieure, Bauarbeiter und Kriegsgefangene, vor allem aber Zwangs- und Fremdarbeiter, die unter elenden Zuständen lebten. Es gab eine eigene Werksbahn, die im Fünf-Minuten-Takt fuhr. Heute befindet sich an dieser Stelle das Historisch-Technische Informationszentrum (HTM).
Gleich am Museumseingang steht sie, die zigarrenförmige »Wunderwaffe«. Daneben: Museumsbesucher mit ihren Digitalkameras – anschlagsbereit für das Gruppenbild mit »V2«.Im Zentrum des Museums befindet sich das auch für heutige Verhältnisse gewaltige Kraftwerk: 35 Meter hoch und knapp 100 Meter lang – eine Kathedrale ganz aus Stahlbeton, mit Backstein verklinkert und fast vollständig erhalten. Ein gläserner Aufzug führt zu einer Aussichtsplattform auf das Dach des ehemaligen Kraftwerks. Von dort schweift der Blick über das 25 Quadratkilometer weite Gelände – und man kann erahnen, welche räumliche Dimension die ehemalige Rüstungsanlage hatte. Gleich daneben: das Schalthaus, in dem damals die Schaltanlagen und der Kabelboden untergebracht waren. Heute beherbergt es die Dauerausstellung des Historisch-Technischen Museums Peenemünde.
Dort wird erklärt, dass hier einst 40 der modernsten wissenschaftlich-technischen Einrichtungen ihrer Zeit entstanden. Unter anderem der weltweit größte Windkanal, in dem man 4,4-fache Schallgeschwindigkeit messen konnte. Das entspricht ungefähr der Geschwindigkeit der Rakete, die hier gebaut wurde. Gleichzeitig kamen über 20 000 Menschen, vor allem KZ-Häftlinge bei der »V2« Produktion ums Leben – mehr, als ihr verbrecherischer Einsatz Opfer forderte.
Am 3. Oktober 1942 gelang der weltweit erste Start einer Rakete in den Weltraum. Beim Testflug erreichte die A4-Rakete (das vierte Aggregat in der Raketen-Entwicklungsserie) Überschallgeschwindigkeit und eine Gipfelhöhe von 84 Kilometer. In 270 Sekunden legte sie 190 Kilometer zurück und stürzte am Ende in die Ostsee.
Die A4 konnte Sprengstoff mit dem Gewicht von etwa einer Tonne transportieren. Sie gilt als Vorläufer aller militärischen und zivilen Trägerraketen. Zarah Leander hatte sie noch kurz vor Kriegsende in ihrem Durchhalteschlager anspielungsreich gepriesen. Beim Publikum kam das an. Trotz oder vielleicht wegen der grausigen Realität des Krieges, resümiert der Kurator und wissenschaftliche Leiter des HTM Philipp Aumann: »Dahinter verbirgt sich der hochmoderne und nicht nationalsozialistische Glaube, neue Technik könne jedes Problem lösen« – mit der Folge, dass viele Deutsche glaubten, den Krieg gewinnen zu können. »Dazu kamen die Propaganda und der tief verwurzelte Glauben an die Schaffens- und Schöpfungskraft des deutschen Ingenieurs. Die Waffe wurde zu einem wichtigen Faktor dafür, dass die Deutschen bis in den totalen Untergang weiterkämpften.«
Gleichzeitig lagen auf den Reißbrettern der Ingenieure, Physiker und Militärs 1942 bereits Pläne für Interkontinentalraketen. Rund 3 200 »V2«-Raketen und 22 000 des Vorgängertyps »V1« ließ das NS-Regime auf Städte in Belgien, Frankreich und vor allem Großbritannien abfeuern. Etwa 17 000 Menschen wurden durch den Beschuss getötet, so Museumsleiter Aumann. Den Kriegsverlauf konnten die vermeintlichen Wunderwaffen nicht beeinflussen.
Peenemünde – ein janusköpfiger Ort des technischen Fortschritts, der gleichzeitig von Weltmachtstreben und Menschenverachtung des NS-Regimes zeugt. Im kollektiven Gedächtnis ist Peenemünde aber weniger als militärisches Großprojekt präsent denn als erste Station auf dem Weg zum Mond. In den 1990er-Jahren hatte die Gemeinde damit geworben, dass hier das Tor zum Weltraum gestanden habe. »Die Wiege der Raketen wurde den Opfern zum Sarg«, mahnt heute ein kleines Schild vor der Kapelle gegenüber dem Museumseingang. Eines der wenigen Gebäude, das aus alten Peenemünder Tagen noch erhalten geblieben ist.
Unter der Leitung des Physikers und SS-Sturmbannführers Wernher von Braun entwickelten Wissenschaftler eine Fernrakete und ein hochleistungsfähiges Triebwerk. 1932 wurde von Braun Mitarbeiter der Versuchsstelle für Flüssigkeitsraketen bei Berlin, eine Abteilung des Heereswaffenamtes. Zwei Jahre später promovierte der 22-Jährige, seine Doktorarbeit erhielt den Vermerk »Geheime Kommandosache« und wurde nicht veröffentlicht. Der Beginn einer einzigartigen Karriere: 1937 beförderte man ihn zum technischen Direktor in Peenemünde. Von Braun war damit verantwortlich für das Raketenwaffenprojekt.
Dass er sich damit in die Verbrechen des NS-Staates verstrickte, wies von Braun in einem Radiointerview von 1963 vehement zurück. Sein beruflicher Ehrgeiz tat ein Übriges: Von Braun wurde von Adolf Hitler per Handschlag zum Professor ernannt. Er hatte diesen Titel Professor Zeit seines Lebens nie abgelegt, während seiner Tätigkeit für die Nasa (1970 wurde er zum Vize-Direktor der US-amerikanischen Weltraumbehörde berufen) und bis zu seinem Tod behalten. Spötter sagten: Eigentlich müsste er Professor h. c. heißen, aber nicht honoris, sondern hitleris causa!
Nur durch den massiven Einsatz von Zwangsarbeitern, KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen war es möglich, die Heeresversuchsanstalt Peenemünde zu errichten und eine Massenproduktion der »V2« zu gewährleisten. Vor allem als am 17. und 18. August 1943 alliierte Bomber die Produktionsstätten in Peenemünde bombardierten und die Raketen-Fertigung in das Außenlager Dora-Mittelbau bei Nordhausen verlegt wurde. Dort starben bis Kriegsende tausende KZ-Häftlinge.
Heute steht im Mittelpunkt des Museums die Auseinandersetzung der militärisch-technischen Vergangenheit mit der Ambivalenz von Ethik und Wissenschaft. Jährlich kommen etwa 150 000 Besucher. Eine beeindruckende Erinnerungsstätte von internationaler Strahlkraft. Das HTM ist nicht nur Ausstellungsort, sondern eine Kulturfabrik mit Rockkonzerten und klassischen Musikaufführungen. Benjamins Brittens »War Requiem« wurde hier gespielt und Arnold Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau«. Ein »stark kulturtouristischer Ort«, sagt Philip Aumann. »80 Prozent unserer Besucherinnen und Besucher, die hierherkommen, sind reguläre Urlauber. Die kommen relativ blauäugig, interessiert und wollen lernen, worum es hier ging und was dieser Ort tatsächlich war.«
Abseits der beliebten Kaiserbäder mit ihren Seebrücken im Osten der Insel hielt die Landesregierung, die vor einigen Jahren die Hauptanteile am HTM erwarb, den historischen Ort finanziell erstaunlich kurz. Ohne institutionelle Förderung waren Philipp Aumann und die rund 25 Mitarbeiter auf die Einnahmen aus Eintrittskarten und Führungen angewiesen. Die Folge: Jahrelang erhielten die Beschäftigten 30 Prozent weniger Gehalt als tariflich vereinbart. Für Aumann »ein unhaltbarer Zustand«. Noch im März dieses Jahres wandte er sich mit einem offenen Brief an die Landesregierung in Schwerin, um die Schieflage einer der wichtigsten historischen Orte Deutschlands zu monieren. Mit Erfolg: Ab September 2023 sollen die HTM-Mitarbeiter entsprechend den Lohnvereinbarungen für den öffentlichen Dienst bezahlt werden. 400 000 Euro stellt das Land Mecklenburg-Vorpommern zusätzlich zur Verfügung. Ob das reichen wird? Denn laut der Gewerkschaft Verdi sind noch immer nicht alle Zusatzleistungen eines vollwertigen Tarifvertrages eingeschlossen wie etwa Arbeitszeiten, Zuschläge und Altersversorgung.
Geblieben sind in Peenemünde die Ruinen der Vergangenheit, die langsam von der Natur erobert werden. Stumme Zeuge nationalsozialistischer Rüstungsmaschinerie. Auf fast 25 Quadratkilometer erstreckt sich das Gelände der ehemaligen Heeresversuchsanstalt. Noch immer sind Teile des Geländes gesperrt, sind nicht alle Minen und Bomben beseitigt. Munitionsverseucht – wie es offiziell heißt. Auf dem weitläufigen Freiluft-Areal des Informationszentrums sind Kampfflugzeuge, Hubschrauber, rostige Düsentriebwerke und Raketen aller Art zu sehen, eine Mig und ein britischer Lancaster-Bomber. Im Hafen liegt ein Kriegsschiff. Als Besucher ist man hin und her gerissen, wenn man die Kampfjetparade abschreitet oder die unterschiedlichen Lenkwaffen betrachtet, die heute das Freiluft-Areal des Museums beherbergt. Einerseits kamen Tausende von Zwangsarbeitern beim Bau der Rakete zu Tode, die wiederum Tausende von Zivilisten tötete. Anderseits fasziniert diese von Kriegsgerät ausgezehrte Landschaft.
Das Historisch-Technische Museum Peenemünde hat von April bis September von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 10,00 € für Erwachsene, persönliche Führungen nur nach Voranmeldung (Gruppen bis 20 Personen: 50,00 €); Audioguides in deutscher, englischer, französischer, polnischer und schwedischer Sprache (2,50 €).
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