LKW-Streik in Gräfenhausen: Mazur-Kunden in der Verantwortung

Die streikenden Lkw-Fahrer in Gräfenhausen kämpfen weiter um die Auszahlung ihrer Löhne

  • Daniel Behruzi, Darmstadt
  • Lesedauer: 4 Min.

543 002 Euro – so viel Geld schuldet die polnische Mazur-Gruppe den gut 120 Lastwagenfahrern, die seit einem Monat auf der Raststätte Gräfenhausen bei Darmstadt ausharren (»nd« berichtete). Doch statt mit den aus Georgien, Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan stammenden Fahrern zu verhandeln und die Ausstände zu begleichen, hat das Unternehmen Strafanzeige wegen »Erpressung« gestellt. Die Beschäftigten wollen sich nicht einschüchtern lassen und nehmen die namhaften Endkunden der Spedition in die Pflicht.

»Wir haben nur eine einzige Forderung: dass unser Gehalt bezahlt wird, wie es vereinbart wurde – keine zusätzlichen Zinsen, nur das, was uns zusteht«, erklärte ein georgischer Fahrer, dem Mazur nach dessen Angaben 4600 Euro schuldet. »Seit zwei Monaten kann ich meiner Frau und meinen vier Kindern kein Geld schicken«, so der 49-Jährige. »Meine Brüder helfen ihnen, aber das geht auf Dauer nicht. Ich brauche dringend das Geld.« Ein anderer berichtete, dass er schon seit fünf Monaten keinen Lohn mehr erhalten hat. Insgesamt belaufen sich die Forderungen auf 543 002 Euro, wie die Trucker bei einer Pressekonferenz am Freitagnachmittag bekanntgaben.

Zugleich wiesen sie auf die Verantwortung der Konzerne hin, die die Dienste von Mazur – meist vermittelt über ein verzweigtes System von Subunternehmen – in Anspruch nehmen. Darunter seien Firmen wie Audi, Porsche und Red Bull sowie die Logistikunternehmen DHL und Intercargo. Beim ersten Streik im April, als Mazur-Fahrer nach einem fünfwöchigen Konflikt schließlich die Auszahlung ihrer Löhne erzwangen (»nd« berichtete), hatten die Beschäftigten die Endkunden angeschrieben und um Hilfe gebeten. Dennoch hielten diese an der Zusammenarbeit mit Mazur fest.

»Für alle wird damit deutlich, dass diese Unternehmen Gesetzesbrüche in Kauf nehmen und die Anforderungen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes verletzen«, erklärte der DGB Hessen-Thüringen in einer Mitteilung. Die stellvertretende DGB-Bezirksvorsitzende Renate Stenartz sagte: »Damit wird deutlich, welche Missstände im internationalen Fern- und Güterverkehr auf Deutschlands Straßen jeden Tag vorherrschen. Es ist ein Skandal, wenn EU-weite Vorschriften und deutsche Gesetze massiv missachtet und die Fahrer systematisch ausgebeutet werden.« Der niederländische Gewerkschafter Edwin Atema, den die Trucker wie schon im April zu ihrem Verhandlungsführer bestimmten, kritisierte: »Unternehmen wie DHL und Red Bull machen ihren Namen gerne öffentlich bekannt, schweigen aber, wenn die Fahrer, die ihre Waren transportiert haben, ausgebeutet werden.« Diese Konzerne hätten die Macht, den Beschäftigten zu ihrem Recht zu verhelfen.

Bereits beim Arbeitskampf im Frühjahr war der Druck auf die Lieferketten letztlich entscheidend dafür, dass Mazur den damals 65 Fahrern ihre Löhne komplett überwies – insgesamt genau 303 363 Euro und 36 Cent. Damals brauchte General Electric dringend Teile, die in Gräfenhausen feststeckten. Drohende Schadensersatzzahlungen brachten Mazur schließlich zum Einlenken. Das dürfte auch der Hintergrund dafür sein, dass sich das polnische Unternehmen zunächst kompromissbereit gab, als es Mitte Juli erneut zum Protest in Gräfenhausen kam. Es zahlte etwa ein Dutzend Fahrer aus. Daraufhin kamen viele weitere, woraufhin Mazur seine Strategie änderte. Anders als im April hetzte der Unternehmer den Streikenden zwar keinen Schlägertrupp auf den Hals . Er versucht aber, die deutsche Justiz gegen die Kollegen in Stellung zu bringen, indem er Anzeige wegen »Erpressung« erstattete.

In der Folge nahm die Polizei am 16. August die Personalien der Kollegen auf. »In einem zweiten Schritt soll den Fahrern rechtliches Gehör gewährt werden«, heißt es in einer Pressemitteilung der Darmstädter Staatsanwaltschaft und der Polizei. Die Beschäftigten sollen dabei auch ihre Forderungen gegenüber dem Unternehmen darstellen und belegen können. Edwin Atema betonte auf nd-Nachfrage, die Vorwürfe von Mazur entbehrten jeder Grundlage. »Die Fahrer wollen niemanden erpressen, sondern lediglich für ihre Arbeit entlohnt werden.« Er berichtete, die Kollegen hätten Kündigungsschreiben erhalten – mit ihrer Unterschrift. »Die Unterschriften sind gefälscht, das ist komplett illegal«. Er sieht das Unternehmen am Zug, endlich auf die Beschäftigten zuzugehen.

Für diese ist es eine enorme Belastung, wochenlang an dem Autobahnrastplatz ausharren zu müssen. Dass das überhaupt möglich ist, liegt an der großen Unterstützung aus der Region. Gewerkschaftsaktive bringen regelmäßig Nahrungsmittel vorbei. Da die Duschen am Rastplatz kaputt sind, hat der örtliche DGB einen Pendelservice eingerichtet: Zweimal pro Woche werden die Kollegen zu einer Sporthalle nach Darmstadt gefahren, um dort zu duschen. Ehrenamtliche »Waschpaten« sammeln die Kleidung der Fahrer ein und bringen sie gewaschen wieder zurück. Für die Fahrer ist die Hilfe die Voraussetzung dafür, dass sie die Aktion fortsetzen können. Ein Kollege meinte: »Wir brauchen Unterstützung, damit diese Sauerei aufhört.«

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