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Gegen Ohnmacht hilft Organisierung
Wer spendet, versucht oft das eigene Ohnmachtsgefühl zu beruhigen, meint Kolumnist Olivier David. Organisieren und mithelfen ist aber viel effektiver
Immer wieder wird mir in Leser*innenbriefen- und Mails zu meinem Buch oder zu Essays, die ich schreibe, berichtet, dass meine Geschichte »lähmt«, dass sie »betroffen« macht, oder ein Gefühl von »Hoffnungslosigkeit« hinterlässt. Oftmals schreibe ich den Menschen dann zurück, dass ich ihre Gefühle verstehen kann. Jedes Mal denke ich jedoch, dass die Ausgangslage völlig falsch ist.
Klar, Betroffenheit drückt Empathie aus, manchmal sogar Mitgefühl, aber eben oft einfach nur Mitleid – und Mitleid ist eine Kategorie, die in sozialen Lebensrealitäten nichts zu suchen haben sollte. Wer Mitleid hat, spendet zum Beispiel ein wenig Geld oder versucht, das Gefühl der Ohnmacht anders zu überwinden – dies alles geschieht jedoch aus Eigennützigkeit.
Es geht hierbei, so meine Erfahrung, jedoch weniger um die Überwindung der Zustände von Armut, sozialer Isolation und Ausgrenzung, sondern meist nur um die eigene Beruhigung. Ich bin einer von den Guten, versucht man sich zu suggerieren.
Die spürbare Ohnmacht, die eine Lebensrealität, mit der man plötzlich in Berührung gekommen ist, hinterlässt, wird überschrieben durch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Nach dem Motto: Jetzt fühle ich mich nach dem Spenden von 10 Euro gleich ein bisschen besser. Damit sie mich an dieser Stelle nicht falsch verstehen, Spenden ist nicht per se falsch, ich selbst spende immer mal wieder einen Teil meiner Honorare.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.
Jedoch, und jetzt kommen wir zum Punkt, wird das Spenden (oder jeglicher anderer Versuch, ein Ohnmachtsgefühl, das durch die plötzliche Beschäftigung mit einer unvermuteten sozialen Realität, aufgetaucht ist) zum Problem, wenn man es als Ablasshandel versteht; als einen politischen Akt, der er nicht ist.
Diese Geisteshaltung erlebe ich immer wieder bei Menschen, die global gesehen ein unerhörtes Maß an Selbstwirksamkeit haben, und sie bedarf einer Antwort.
Eine erste Antwort wäre, sich diese Selbstwirksamkeit, die viele im Alltag an sich selbst nicht bemerken, klarzumachen. Global gesehen haben die meisten Menschen in diesem Land mehr Macht und Möglichkeiten, als 85 Prozent der Weltbevölkerung. Und genau das schreibe ich auch in meinen Antworten, wenn ich mal wieder eine solche Mail oder einen Brief bekomme.
Dieser Text ist ein Plädoyer dafür, das Elend in der eigenen Umgebung zu bekämpfen und sich zu organisieren, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken. Das ist nämlich um einiges effektiver. Und das Gefühl, etwas Nützliches für eine bessere Welt beizutragen, hält länger vor, denn man selbst wird zu einem Baustein ebendieser besseren Welt. Nicht der Euro, den man in die Mütze eines Wohnungslosen wirft – wenngleich dennoch jeder Euro in der Mütze eines Bedürftigen hilft!
Aber wie viel nachhaltiger es ist, sich in einer Nachbarschaftshilfe zu organisieren; zweimal am Tag Lebensmittel zu retten; sich für den Betriebsrat in der Firma aufzustellen; in die Gewerkschaft einzutreten; Hausaufgabenhilfe für benachteiligte Kinder zu organisieren oder Menschen mit Sprachbarrieren beim Gang zum Amt zu begleiten.
Denn das sind doch die Dinge, die den Unterschied machen, vielleicht erst nur im Kleinen und auf der individuellen Ebene – aber wenn in zwanzig Jahren die Frage aufkommen wird, wo wir alle waren, als die Welt abermals auf der Kippe stand, als Gerechtigkeit zum x-ten Mal zu einer hohlen Phrase im Wahlkampf verkommen war; dann werden wir eine bessere Antwort geben können, wenn wir sagen: An mir und meinem Stadtteil lag es nicht. Wir haben uns organisiert, wir haben versucht, im Leben unser Nachbar*innen den Unterschied zu machen.
Und selbst wenn der Wandel hin zum Guten nicht gelingen sollte: Wie viel besser scheitert es sich für den, der von sich selbst sagen kann, dass er ein reines Gewissen hat.
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