Bauen im Zahlennebel

Über die Berliner Wohnbaustatistik wird politisch hart gestritten – doch die Zahlen stimmen nicht

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 7 Min.

»Wir haben im letzten Jahr 17 300 und etwas geschafft. Das ist für 17 300 Haushalte ein neues Zuhause gewesen und deswegen bin ich sehr stolz darauf, dass es im letzten Jahr gelungen ist«, sagte Bausenator Christian Gaebler (SPD) bei der Senatspressekonferenz Anfang August zu den Wohnungsbauzahlen für 2022. Bereits in einer Mitteilung vom 17. Mai hatte er dasselbe behauptet.

Schon damals stand die Aussage im Widerspruch zu Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg, das am 15. Mai mitgeteilt hatte, dass jede fünfte der neu erfassten fertiggestellten Wohnungen nicht 2022, sondern bereits früher fertig war. Weil der Bausenator die »politisch passende« Unwahrheit drei Monate später wiederholt hat, offenbart er sich als ungenierter Wiederholungstäter.

Die alarmierende Mitteilung der Statistiker und die Worte des Senators haben das »nd« veranlasst, bei mehreren Stellen und Experten diesen ungewöhnlichen Vorgang aufzuklären. Die wichtigste Information stammt vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. Dieses hat inzwischen mitgeteilt, dass nach den Meldungen der Bauaufsichtsämter im Jahr 2022 nur 13 801 Wohnungen fertiggestellt worden sind, 3509 weniger als Senator Gaebler angegeben hat. Er beruft sich also auf eine um ein Viertel geschönte Statistik. Die offene Frage: Wie viele Fertigstellungen werden noch nachgemeldet? Coronakrise und Baukonjunktur deuten darauf hin, dass es nicht allzu viele sein werden.

Zusätzlich hat das Statistikamt mitgeteilt, wie die tatsächlichen Fertigstellungen in den letzten Jahren aussehen (siehe Kasten). Früher veröffentlichte Zahlen waren ungenau und müssen korrigiert werden. Der Wohnungsneubau in Berlin befindet sich nach diesen Daten also seit 2019 im freien Fall. Reiner Braun vom Analysehaus Empirica hatte dies bereits im Mai auf Twitter vermutet, nachdem er die Mitteilung der Statistiker ausgewertet hatte. Der zuständige Senator spielt aber den Ahnungslosen – oder tut er nur so? Woher kommt dieser Zahlensalat?

Baustatistik

Die Lektüre der Dokumente und Erläuterungen von Experten ergeben folgende Erklärung: Es gibt ein Hochbaustatistikgesetz des Bundes, das Bauherren sowie Bauaufsichtsämter zu bestimmten Informationen verpflichtet. Ein Teil dieser Verpflichtungen findet sich auch in der Bauordnung wieder. So muss zu jeder Baugenehmigung vom Bauherrn ein Statistikbogen ausgefüllt werden, der von der Bauaufsicht an das Amt für Statistik geliefert wird, dort eine einmalige Nummer erhält und so lange aufbewahrt wird, bis das Vorhaben fertig gestellt oder die Baugenehmigung erloschen ist. Die so erfassten Baugenehmigungen werden monatlich veröffentlicht.

Baubeginn und Baufertigstellungen müssen laut Bauordnung vom Bauherren jeweils unverzüglich an das Bauaufsichtsamt gemeldet werden; die Meldungen werden dort Bestandteil der jeweiligen Bauakte. Fertigstellungen werden monatlich von der Bauaufsicht an das Statistikamt weitergereicht.

Unabhängig von diesen Auflagen für Bauherren gibt es eine spezielle Meldepflicht, die nur die Bauaufsicht betrifft. Jeweils zum 31. Dezember jeden Jahres müssen alle Bauaufsichtsämter in Deutschland für alle Vorhaben, die genehmigt, aber noch nicht fertig gemeldet wurden, den tatsächlichen Stand ermitteln. Der Fachbegriff dafür lautet »Bauüberhangserhebung«. Das Amt für Statistik kennt aufgrund der Genehmigungsbögen immer alle nicht fertigen Objekte.

Jeweils im November verschickt das Amt eine Liste dieser Objekte an die Bauaufsicht. Diese muss dann bis Mitte Februar für jedes Objekt eine von fünf Angaben machen: »(1) noch nicht begonnen; (2) begonnen, nicht unter Dach; (3) begonnen, unter Dach; (4) fertiggestellt einschließlich Datum; (5) Genehmigung erloschen«. Für jedes Objekt kann jeweils nur eine dieser Informationen zutreffen. Jedes nicht fertige Objekt durchläuft lückenlos jährlich diese Abfrage. Als Informationsquelle dienen zunächst persönliche Kenntnis des Sachbearbeiters und eine Auswertung der Bauakte.

Sind die Informationen zu alt, muss eine Abfrage beim Bauherrn erfolgen; ist diese nicht glaubhaft oder erfolgreich, ist eine Inaugenscheinnahme des Objekts erforderlich. Bei der Überhangserhebung fallen deshalb am Jahresende automatisch alle bisher nicht gemeldeten Fertigstellungen auf. Tatsächlich melden viele Bauherren nicht rechtzeitig, weshalb dieser Erhebung durch die Bauaufsicht eine statistisch und wohnungspolitisch überragende Bedeutung zukommt.

Weil für die Ermittlung insgesamt 60 Arbeitstage zur Verfügung stehen, sollte die Anforderung der Bundesstatistik kein Amt überfordern. Die Verpflichtung der Bauaufsicht ist weder besonders noch ungewöhnlich.

Erfolgt die Überhangserhebung korrekt, liegt jeweils zum Jahresende eine verlässliche Zahl über die im Vorjahr fertig gestellten Wohnungen vor, ebenfalls über die Zahl der im Bau befindlichen und der noch nicht begonnenen Einheiten. Diese Zahlen werden jeweils im Juni veröffentlicht. Unterjährige verlässliche Zahlen kann es nicht geben, weil eine vollständige Erfassung nur einmal im Jahr zum Jahresende erfolgt.

Inzwischen hat das Amt für Statistik »nd« aber auch mitgeteilt, dass die Bauüberhangserhebung in Berlin in den letzten Jahren erstaunlich fehlerträchtig gewesen ist. Es kam nämlich in den einzelnen Jahren immer wieder zu zahlreichen Nachmeldungen bei den Fertigstellungen, was gesetzlich nicht vorgesehen ist. Es ist eigentlich auch gar nicht möglich, weil im Rahmen dieser Erhebung alle fehlenden Fertigstellungen automatisch am Jahresende auffallen.

Trotzdem ist es in den vergangenen Jahren immer wieder vorgekommen, die Zahlenreihe ist merkwürdig: 2018 entfielen 8,7 Prozent der als fertiggestellt veröffentlichten Wohnungen in Wahrheit auf frühere Jahre, 2019 waren es 10,9 Prozent, 2020 nur 4,6 Prozent. 2021 wurden schließlich 15,9 Prozent nachgemeldet, 2022 sogar 20,3 Prozent. Die Nachmeldungen entfielen laut Statistikamt jeweils auf mehrere Jahre rückwärts: Von den rund 3500 verspäteten Wohnungen des Jahres 2022 entfielen zum Beispiel nur etwa 2500 auf das Jahr 2021, knapp 1000 aber auf mehrere frühere Jahre. Eine genaue Auflistung aller letzten Jahre ist das Amt für Statistik noch schuldig.

Diese erstmals nach intensiver Recherche bekannt gewordenen Daten beweisen mehrere Dinge: Die bisher veröffentlichten Daten zu den Fertigstellungen sind nicht verlässlich und müssen korrigiert werden. Zu erklären ist das nur durch Unzuverlässigkeiten bei der Ermittlung des Bauüberhangs, der nicht von allen Bauaufsichtsämtern vollständig korrekt durchgeführt wurde. Offensichtlich wurden bei nicht wenigen Objekten in allen Jahren objektiv falsche Angaben zum Bautenstand gemacht beziehungsweise nicht wie gesetzlich vorgesehen ermittelt. Die Abweichungen sind wohnungspolitisch relevant, weil sie keinen regelmäßigen Charakter haben, sondern in den einzelnen Jahren unterschiedlich groß ausfallen und deshalb die zeitliche Entwicklung falsch wiedergeben. In den Jahren 2021 und 2022 sind die Nachmeldungen sogar regelrecht explodiert, was die Darstellung der jüngsten Entwicklung grob verfälscht.

»nd« hat auch die Senatsbauverwaltung zu diesem Thema befragt und um Erklärungen für die unterschiedlichen Zahlen gebeten. Die Antwort der Pressestelle zeigt entweder eine erstaunliche Unkenntnis der Verwaltung oder schlicht Unverfrorenheit. Die Senatsverwaltung schiebt nämlich die Schuld für zu späte Meldungen allein den Bauherren zu und ignoriert vollständig die Verpflichtung der Bauaufsichtsämter zur wahrheitsgemäßen Faktenermittlung im Rahmen des Überhangs. Sie will allerdings »Sorge dafür tragen, dass zukünftig die jeweiligen Fertigstellungszahlen auch dem entsprechenden Jahr zugeordnet werden und somit die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden«. Sie sieht also offensichtlich auch ein Problem, teilt aber nicht mit, wie sie es lösen will.

Während in der Antwort der Pressestelle ein gewisses Problembewusstsein zu erkennen ist, scheint dies Senator Gaebler nicht zu berühren: Wie am 8. August erlebt, hat er weiter kein Problem damit, objektive Unwahrheiten zu verbreiten. Bereits im Mai erklärte sein Sprecher Martin Pallgen auf Anfrage von »nd« zu den Wohnungsbauzahlen 2022: »Für uns ist die 17 310 die offizielle Zahl.« Das Entscheidende sei, dass die Wohnungen in diesem Umfang dem Mietmarkt zur Verfügung stünden. Seit Mai 2019 liegt der Bauverwaltung auch eine von ihr in Auftrag gegebene Untersuchung genau zu dem Thema vor, die nie veröffentlicht worden ist.

Das ist ein ernsthaftes Problem für die Baupolitik. Um adäquate Maßnahmen ergreifen zu können, sind präzise Zahlen, die auch zeitnah vorliegen, unerlässlich. Und eine politische Diskussion, die auf vollkommen verzerrten Statistiken beruht, von denen die meisten Akteure auf der Bühne keine Ahnung haben, ist eigentlich wertlos.

Es scheint also an der Zeit, dass sich der politische Raum, Wissenschaft und Öffentlichkeit intensiver mit dieser merkwürdigen und gefährlichen Berliner Mischung aus Schlamperei und Schönfärberei beschäftigen.

Das Problem falscher Statistiken weist über Berlin hinaus. Das Statistik-Landesamt merkte in seiner Mitteilung im Mai für Brandenburg an, dass fast jedes siebte 2022 zugerechnete Bauprojekt bereits vorher fertig war.

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