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Henri Lefebvre und die Pariser Kommune: Stadt und Revolution
Der französische Soziologe Henri Lefebvre war Stadtforscher und Marxist. Ein neuer Band zieht diese Verbindung mit seiner Arbeit zur Pariser Kommune
Henri Lefebvre (1901–1991) gehört zweifellos zu den formativen Figuren des intellektuellen Lebens in Frankreich. Als 1968 das große kulturelle Erdbeben beginnt, kann er sich auf viele Jahre marxistische Forschung und politische Erfahrung stützen. Dabei gehörte er nicht nur zu den wichtigsten Kennern, sondern auch zu den lautesten Kritikern des Marxismus. Lefebvre hat die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) stets kritisch begleitet, wurde schließlich aus der Partei ausgeschlossen und hat später die Entstehung der Neuen Linken entscheidend mitgeprägt.
Bekannt geworden ist er im deutschsprachigen Raum jedoch vor allem mit seinen stadtsoziologischen Schriften und als Stichwortgeber der Bewegung für ein »Recht auf Stadt«, wie eines seiner Werke heißt. Sein umfangreiches Buch zur Geschichte der Pariser Kommune – der große urbane Aufstand im Jahre 1871, der auch auf Karl Marx einen wichtigen Einfluss hatte und später mitunter als Vorbild für die Oktoberrevolution gehandelt wurde – lag bisher allerdings weder auf Deutsch noch auf Englisch vor. Dabei werden darin am Beispiel der großen Pariser Gegengesellschaft, in der alles ganz anders werden sollte, viele bis heute offene politische Fragen angesprochen: Wie viel Autonomie und Selbstverwaltung ist für die Transformation der Gesellschaft nötig? In welchem Verhältnis stehen politische Disziplin und spontane Kreativität?
Die Herausgeber*innen des soeben erschienenen Bandes »Baustelle Commune« haben nun in Eigenregie ausgewählte Teile von Lefebvres »La Proclamation de la Commune« von 1965 übersetzt und ausführlich kommentiert. Es geht ihnen darum, in der aktuellen Renaissance Lefebvres als Stadtsoziologe auch seine staats- und herrschaftskritischen Theorieelemente gebührend zu würdigen. Damit wird eine Brücke zwischen zwei zentralen Themen in Lefebvres Arbeiten geschlagen: Historischer Materialismus und die Rolle der Städte.
Die urbane Umwälzung
Zu einer Zeit, in der Deutschland als die »verspätete Nation« gerade noch im Prozess der konfliktreichen Einigung begriffen war, trat Frankreich 1870 bereits in die finale Krise seines zweiten Kaiserreichs ein. Beiden Seiten kam deshalb die Möglichkeit gelegen, durch einen außenpolitischen Konflikt patriotische Gefühle anzuheizen. Doch anders als erwartet trat der Deutsch-Französische Krieg überhaupt nicht zur Stabilisierung eines nationalen Gleichgewichts bei. Frankreich musste mehrere Niederlagen einstecken, die zu einer regelrechten Implosion der Machtverhältnisse führten. Nachdem schließlich auch noch der Kaiser Napoleon III. in Gefangenschaft geraten war, wurde in Paris die mittlerweile Dritte Französische Republik ausgerufen.
Insbesondere die Pariser Stadtbevölkerung, so rekonstruiert der Band Lefebvre, habe keinerlei Interesse daran haben können, sich den Deutschen einfach geschlagen zu geben, nur weil sich ihr ohnehin unbeliebter Kaiser militärisch blamiert hatte. Wenn die Deutschen Napoleon schon so unbedingt haben wollten und sich ausgerechnet in Versailles, dem ehemaligen Machtzentrum des französischen Absolutismus, selbst zu einem Kaiserreich erklären mussten: Dann sollten sie ihn aber bitte gleich ganz behalten – und den gesamten alten Kaiserplunder mit dazu! Auch an den zwischen Versailles und Kanzler Bismarck geschlossenen Frieden fühlte sich der Großteil der Stadtbevölkerung von Paris nicht mehr gebunden.
Die Belagerung der Stadt – erst durch die Preußen, später von den eigenen, französischen Truppen – und der Legitimitätsverlust der alten Ordnung habe verschiedenste gesellschaftliche Strömungen zu einer kräftigen politischen Front zusammengeschweißt. Patriotisch eingestellte Nationalgardisten, einfache Arbeiter*innen, republikanisch orientierte Jakobiner*innen, Sozialist*innen und selbst liberale Freimaurer-Vereinigungen: Sie alle wussten genau, dass mit der neuen rechtskonservativen Regierung nicht sinnvoll zu verhandeln war. Der durch und durch royalistische Präsident Adolphe Thiers würde alle Errungenschaften wieder rückgängig machen, die im Ausnahmezustand des Kriegs noch möglich waren. Zum Beispiel würden die im Krieg gestundeten, weil ohnehin nicht mehr bezahlbaren Mietschulden wieder vollstreckt, die liberale Presse wieder verboten, die allgemeine Arbeitszeit wieder verlängert und soziale Ausgaben gekürzt. Kein vernünftiger Mensch in Paris konnte das wollen.
Am 15. März 1871 traten deshalb 1300 Delegierte aus der Stadt als völlig neues »Zentralkomitee« zusammen, um ein selbstverwaltetes Gegengewicht zu der bereits schwächelnden Verwaltung des alten Regimes zu bilden. Drei Tage später zog sich dessen Apparat auf Anordnung von Thiers schließlich komplett aus der Stadt zurück. »Am 19. März 1871 hat sich der bürgerliche Staat in Paris mit all seinen Organisationen – Armee, Polizei und Verwaltung – scheinbar in Luft aufgelöst«, fasst Mitherausgeber Klaus Ronneberger die Situation zusammen. Die Pariser Kommune war geboren.
Die Kommune nach Marx
Die Herausgeber*innen zeigen, wie Henri Lefebvre die von Marx bereits begonnene Analyse dieser einzigartigen urbanen Revolution in die Gegenwart hinein verlängert. Wie kann das Erbe dieser besonderen Verbindung von urbaner Kultur und klassenübergreifender Überzeugung in der Gegenwart kritisch mobilisiert werden, ohne auch die Schattenseiten – patriotische Hochgefühle, exzessive Gewalt und nationale Reinheitsfantasien – wiederzubeleben? Lefebvre war sich sicher: »Die marxistische Theorie gründet in der französischen Erfahrung der Commune und nicht etwa in der Ideologie des Staatssozialismus, die ausgehend von Lassalle in Deutschland entstand.«
Als marxistischer Soziologe weiß Lefebvre genau, dass eine wirkliche Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse keine eindimensionale Angelegenheit ist. Es reicht nicht, die Theorie von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt herunterzubeten. Vielmehr fangen schon bei der Wohnungsfrage die Schwierigkeiten mit der richtigen Politik für die Arbeiter*innen an: Man kann die lohnarbeitenden Klassen zwar in billigen Wohnfabriken oder Reihenhäusern einquartieren, die sich auch mit den niedrigsten Gehältern abbezahlen lassen. Gewonnen ist damit jedoch nicht viel. Im besten Fall versetzt man damit weitere Schichten in die Lage, an einem nicht nachhaltigen, konsumistischen Spektakel teilzuhaben, im schlimmsten Fall hat man damit die althergebrachten sozialen Verhältnisse buchstäblich zementiert. Von all dem, was ein gutes Leben ausmacht – Sozialität, Interaktion, Kultur, Autonomie – bleiben die Arbeiter*innen auch im Eigenheim am Stadtrand ausgeschlossen.
Ein revolutionäres Fest
Schon vor Lefebvre wurde viel darüber geschrieben, dass die Revolution den Staat nicht nur einfach übernehmen kann, sondern auch die Form und den Sinn der Macht radikal verändern muss. Doch was heißt das im Konkreten? Wie kann der bloße Widerstand gegen eine Ordnung in eine neue Lebensweise übergehen? Solche Fragen nach Kultur, Ästhetik und der räumlichen Anordnung der Klassengegensätze in der Stadt selbst sind es, die Lefebvre immer wieder gegen die starre Politik von Gewerkschaftsverbänden einerseits und die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) andererseits ins Feld führt – und die seine Aktualität heute ausmachen.
Lefebvres Buch über die Pariser Kommune ist im Original sehr umfangreich. Der vorliegende Band enthält daher bei Weitem nicht alle Kapitel. Die Textauswahl vermittelt trotzdem einen guten Eindruck davon, inwiefern die Pariser Kommune ein Beispiel dafür ist, dass revolutionäre Politik etwas anderes sein kann als Parteiarbeit und Gewerkschaftertum. Denn die Revolution der Kommune sei weder »nur« Realpolitik unter kriegerischen Bedingungen noch »nur« eine ultralinke Zerstörung von Eigentum gewesen. Vielmehr beinhalte sie bereits das, was danach kommen sollte: Selbstbestimmung, Initiative und Spontaneität. Die »freie Assoziation von Menschen« sollte schon in der Revolution selbst an die Stelle von Gehorsam, Disziplin und Ordnung treten.
In der Pariser Kommune sieht Lefebvre diesen Anspruch verwirklicht. Das Alltagsleben und die Art, wie Menschen überhaupt miteinander in Beziehung stehen, wird grundlegend verändert. Die Kommune sei daher am besten zu begreifen als ein gigantisches Fest, ein Ausnahmezustand mit dem gleichzeitig völlig ernst gemeinten Anspruch, zur neuen Normalität zu werden. Sie ist die Baustelle, an der die Frühgeschichte der Menschheit endlich enden und eine neue, menschliche Art des Zusammenlebens entstehen würde. Die Herausgeber*innen stellen Lefebvres Hoffnung auf einen solchen Übergang von mehreren Seiten dar: von seiner Verbindung zur Ideenwelt des Situationismus bis zur Suche nach einem offenen, zur Entdeckung neuer Lebensformen geeigneten »Stils« in Philosophie und Geschichtsschreibung.
Um die Bedeutung von Lefebvres Eintreten für Spontaneismus, offenen Marxismus und eine emanzipatorische Politik zu verstehen, müsse man sich auch die hegemoniale Rolle der PCF zu seiner Zeit vor Augen führen. Als eine der wichtigsten kommunistischen Parteien im Westen sei es doch mit einer fortschrittlichen Agenda nicht immer weit her gewesen. Besonders in der Frage nach der Unabhängigkeit Algeriens konnten sich die Kommunist*innen nicht auf eine progressive Position einigen. Zu dieser Zeit wird unübersehbar, dass es widersprüchliche sozialistische Weltanschauungen gibt, die sich ohne eine ausführliche theoretische und philosophische Diskussion auf absehbare Zeit nicht mehr integrieren lassen würden. Die Phase der kritischen Diskussion von Hegel, Marx und Lenin kommt in den 60er Jahren gerade erst in Bewegung. Auch hier spielte Lefebvre bei der Herausgabe von ausgewählten Texten allerdings eine große Rolle und wurde so zu einer wichtigen Figur des »westlichen Marxismus«.
Stärken und Schwächen
Lefebvres Gesamtwerk ist entschieden multithematisch und entzieht sich einfachen Etikettierungsversuchen – was sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche sein kann. Manche Aspekte von Lefebvres wildem Denken wirken aus heutigem zeitlichen Abstand ein wenig antiquiert. Etwa die Beschreibung der Revolution als großes Fest, das selbst dann noch weitergeht, wenn nebenan die feindlichen Truppen einfallen und keine Gnade walten lassen, scheint geradezu bizarr.
Auch die Strategie der Spontaneität, von der sich Lefebvre so viel erhoffte, hat heute viel von ihrer Plausibilität verloren. Dafür gibt es mehrere Gründe, sicher spielen aber die Kontrolle des öffentlichen Raums und die Professionalisierung der Sicherheitsgesellschaft eine wichtige Rolle. Die Pariser Aufständischen im 19. Jahrhundert konnten noch darauf hoffen, der Armee die Augen zu öffnen, stammten sie doch aus denselben sozialen Schichten. Eine solche Brüchigkeit der Sicherheitsapparate erscheint heute unvorstellbar. Aber selbst im Falle der Kommune darf man nicht vergessen: Am Ende wurden die Revolutionär*innen gemeuchelt.
Zur Romantisierung revolutionären Aufbegehrens taugt Lefebvres Buch daher nicht. Vielmehr versteht er es in einzigartiger Weise, unterschiedlichste Themenbereiche undogmatisch aufeinander zu beziehen: Urbanität und Philosophie, Selbstverwaltung und Geschichte – eine Fähigkeit, die sicher auch aufgrund der Produktionsbedingungen von Theorie heute mehr und mehr verloren geht.
Moritz Hannemann/Klaus Ronneberger/Laura Strack: Baustelle Commune. Henri Lefebvre und die urbane Revolution von 1871. Adocs 2023, 340 S., br., 24 €.
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