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Bürokratische Aufrüstung
Die Nato will die Rüstungspläne ihrer Mitgliedsstaaten beschleunigen
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die Westmächte um die USA ihre Materialbestände reduziert. Ein großer Krieg wie jetzt in der Ukraine erschien als unwahrscheinlich. Vor allem die westeuropäischen Nato-Länder sparten seit den 1990er-Jahren an ihren Wehretats und gingen bei der Munitionsbeschaffung zu einer Just-in-time-Produktion über. Das senkte die Kosten. Doch dieses aus der Industrie übernommene Modell ist anfällig. Kleinste Verzögerungen in der Lieferkette führen zu Störungen im Ganzen. Berechnungen des Stockholm International Peace Research Institutes (Sipri) zufolge ist der Kalte Krieg 2022 bei den Militärausgaben nach Mittel- und Westeuropa zurückgekehrt.
Nato-Europa bleibt rüstungstechnisch allerdings ein Flickenteppich. Kürzlich stellten Deutsche und Niederländer nach der Lieferung ihrer Panzerhaubitzen 2000 an die Ukraine fest, dass die Soldaten im Gefecht nicht einfach deutsche 155-mm-Geschosse in niederländischen Haubitzen nutzen können und umgekehrt. Denn trotz gleichen Kalibers müssen die Granaten im jeweils anderen Feuerleitrechner stets neu kalibriert werden. Das Beispiel zeigt, wie die Europäer ihre Streitkräfteprofile über Jahrzehnte zerfasert haben, sodass sie sich nur schwer harmonisieren lassen. Die fehlende »Interoperabilität« hat wirtschaftliche Folgen: Sie führt zu geringen Stückzahlen und erhöht so die Beschaffungskosten.
»Doch das Beschaffungswesen der Bundesrepublik war noch nie darauf ausgelegt, konsequent kampffähige Streitkräfte auszustatten«, heißt es im Magazin »Loyal«, einer durchaus kritischen Hintergrundstimme im Bundeswehr-Umfeld. Im Vordergrund stehe etwas anderes: Ökonomische und fiskalische Effizienz – die Rüstungsmittel sollen passgenau nach den Haushaltsvorgaben ausgegeben werden.
Zentraler Prüfer der Rüstungsagenda ist denn auch keine politische Einheit, die vor allem eine Umsetzung militärischer Vorgaben im Blick hat, sondern der Bundesrechnungshof. Was das deutsche Vergaberecht grundsätzlich auszeichne, sei juristische Überprüfbarkeit, wie es im Magazin »Loyal« heißt. Hinzu komme die Aufteilung von Rüstungsvorhaben in Kleinstlose, um für einen vergleichsweise fairen wirtschaftlichen Wettbewerb zu sorgen. Die EU fand das Konzept einst so überzeugend, dass sie das Vergabedesign »Made in Germany« für Europa schrittweise übernahm. Ausnahmen wären nach EU-Recht zwar möglich, doch solche fallen jeder Beschaffungsbürokratie schwer.
Das nur auf Probe geltende »Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz« und der im April von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ausgegebene »Tagesbefehl Beschleunigung des Beschaffungswesens« stoßen auf weitere Hindernisse. Eines ist Europa. Die deutsche Rüstungsindustrie ist seit Jahrzehnten auf den Bedarf der Bundeswehr ausgerichtet. Nun wird von der Ampelkoalition für die ungeduldige Öffentlichkeit betont aufs Tempo gedrückt, aber gleichzeitig soll verstärkt mit Partnern in Europa aufgerüstet werden. Gleiches planen EU-Partner.
2015 hatte die Bundeswehr nach jahrelangen Vorbereitungen erstmals ein größeres Rüstungsprojekt europaweit ausgeschrieben. Erst 2020 erhielt das niederländische Unternehmen Damen Shipyards Group nach langem politischem Hickhack den Zuschlag für vier Mehrzweckkampfschiffe 180. Veranschlagt dafür sind 5,27 Milliarden Euro. Europäisch heißt eben immer auch Abstimmung und damit Entschleunigung. Unter anderem weil die Standards weit auseinandergehen.
Selbst Nachbestellungen dauern lange. Im Fall der Panzerhaubitze 2000 konnten sich Beschaffungsamt und Industrie erst nach neun Monaten einigen. Da die Bundeswehr – im Gegensatz zu anderen Nato-Armeen – aus Kostengründen auf eine modernisierte Version verzichtet hat, wurden Teile der Bundeswehr-Version nicht mehr hergestellt. Krauss-Maffei Wegmann, Rheinmetall und Hensoldt Optronics müssen zunächst technisch nachrüsten. 2026 soll dem Infodienst Produktion zufolge dann geliefert werden.
Dabei geht es um eine geringe Stückzahl von insgesamt 22 Haubitzen. Die zwei weiteren Hauptmilitärmächte Europas, Großbritannien und Frankreich, bieten ebenfalls keine sogenannte Stückzahlenrüstung. Aber nur große Stückzahlen könnten die hohen Preise der Industrie senken. Die Regierungen in London und Paris setzen jedoch auf Militärkonzeptionen, bei denen die Mittel vor allem in strategische Fähigkeiten wie Atomwaffen und Marine fließen. Die sich zuspitzende Konfrontation mit China dürfte die Orientierung auf den Indopazifik verschärfen.
Bis auf Weiteres sehen sich die Streitkräfte von Europas größter Wirtschaftsmacht unterfinanziert. Daran ändert auch der aktuelle Haushaltsentwurf trotz Mehrausgaben wenig. »Klar ist«, schreibt das bundeswehrnahe Magazin für Sicherheitspolitik, »dass strategische Rüstung mit dem bisherigen Vorgehen nicht machbar ist.« Stattdessen gebe es beim Ausbau der Produktionskapazitäten ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Politik und Industrie. So fordert Rheinmetall-Chef Armin Papperger trotz prall gefüllter Auftragsbücher staatliche Investitionen für eine geplante Pulverfabrik des Dax-Konzerns in Sachsen.
Aufgrund der politischen, bürokratischen und technischen Hürden sucht die westeuropäische Industrie ihr Heil verstärkt außerhalb der EU. Um die Rüstungsproduktion zu beschleunigen, hat die Nato im Juli den »Defence Production Plan« beschlossen. Der soll den Aufbau von Industriekapazitäten im Bündnis fördern, Interoperabilität und Standardisierung des Materials herstellen und die Munitionsproduktion gewährleisten.
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