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Indiens Kastensystem: Nur auf dem Fußballplatz sind alle gleich
Sozialarbeiter in den Slums von Neu Delhi wollen das immer noch allgegenwärtige Kastensystem mithilfe des Fußballs überwinden
Dichter Verkehr schiebt sich über holprige Straßen. Am Rand hält ein Transporter mit großem Wassertank. Verschwitzte Männer eilen sofort herbei und füllen schnell ihre Behälter auf. Viele Lehmhütten im Umkreis haben hier keinen Wasserzugang. Auf der anderen Straßenseite schlängelt sich ein Sandweg entlang der Blechhütten. Schäden in deren Dächern sind nur notdürftig mit Plastikplanen bedeckt. Einige Ecken sind mit Müllsäcken vollgestellt. Dazwischen hocken junge Frauen und suchen in den Säcken nach Pfandflaschen und anderen Gegenständen von Wert. Kleinkinder klettern derweil barfuß über Tüten mit abgelaufenen Lebensmitteln. Der Geruch von Abfall, Smog und Urin lässt das Atmen schwerer erscheinen. Das ist Seemapuri, eines der ärmsten Viertel von Neu-Delhi.
»Unsere Teilnehmer stammen alle aus diesem Viertel. Sie kommen regelmäßig zu uns und spielen Fußball«, sagt Sozialarbeiterin Sonam Chaurasiya, die in Seemapuri aufgewachsen ist und über ihr Viertel kein schlechtes Wort verliert. Chaurasiya steht in Trainingsklamotten auf einem kleinen Bolzplatz und klatscht zur Motivation in die Hände, während Jugendliche in gelben und blauen Trikots sich Bälle zupassen. Die Nichtregierungsorganisation (NGO), für die die junge Frau arbeitet, nennt sich »Slum Soccer« und wurde 2001 gegründet, da war Chaurasiya noch gar nicht geboren. »Slum Soccer« nutze den Fußball als Medium für Bildung und Emanzipation, erzählt Chaurasiya. »Wir sprechen hier über Hygienemaßnahmen, über Sicherheit und auch über Geschlechtergerechtigkeit. Wir möchten unsere Teilnehmer dazu ermutigen, sich in der Gesellschaft stärker zu engagieren.«
An diesem Wochenende findet der G20-Gipfel in Neu-Delhi statt. Der politische und wirtschaftliche Einfluss Indiens wächst. Doch was seltener zur Sprache kommt: Im bevölkerungsreichsten Land der Welt müssen mehr als 200 Millionen Menschen mit umgerechnet 1,25 US-Dollar oder weniger pro Tag auskommen, das sind rund 15 Prozent der Bevölkerung. Die International Labour Organization (ILO) schätzt, dass in Indien rund sechs Millionen Kinder zur Arbeit gedrängt werden.
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Welche Rolle kann Sport bei der Bekämpfung von Armut spielen? Die soziale Stellung ist in Indien eng mit dem Kastenwesen verknüpft. Diese Hierarchie der hinduistischen Gesellschaft soll ihren Ursprung im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung haben. Am unteren Ende stehen die Dalit, auch bekannt als die »Unberührbaren«. Sie mussten sich Jahrhunderte lang mit vermeintlich unreinen Berufen begnügen, als Wäscher und Schlachter, als Müllsammler und Reiniger von Latrinen.
Der indische Staat hat diese Rangordnung offiziell längst abgeschafft. Doch wer sich in Vierteln wie Seemapuri umschaut, der sieht: Das Kastenwesen wird noch immer praktiziert. »Dalit, die in Slum-Gegenden leben, werden oft auf Armut reduziert, sie erleben viel Diskriminierung«, sagt die Sozialarbeiterin. »Bei unserem Fußballprojekt sind sie jedoch willkommen und können so ein Teil der Gemeinschaft sein.« Viele Eltern dachten lange, dass das Viertel für ihre Kinder nicht sicher sei. Die Mitarbeitenden von »Slum Soccer« gingen damals von Tür zu Tür und leisteten Überzeugungsarbeit. Inzwischen spielen Jungen und Mädchen bei der NGO Fußball. »Und wir behandeln alle gleich«, sagt Chaurasiya.
In Indien beschäftigen sich Wissenschaft und Medien selten mit dem Einfluss des Kastenwesens auf den Sport. Eine Ausnahme: Die Aktivistin Tariqa Tandon, die in Neu-Delhi aufgewachsen ist und in Kanada Politikwissenschaft studierte, hat in Artikeln online über erfolgreiche Dalit-Sportler berichtet. Als einer der bekanntesten gilt Cricketspieler Palwankar Baloo. Aufgewachsen im 19. Jahrhundert stammte Baloo aus einer Familie von Lederarbeitern. In Bombay, heute Mumbai, beobachtete er als Jugendlicher die Spiele der britischen Kolonialherren, half beim Aufbau des Spielfeldes und trainierte mit ausrangierter Ausrüstung.
Baloo entwickelte sich schließlich zu einem der besten Spieler. Doch nach den Partien habe er das Abendessen allein zu sich nehmen müssen, erinnert Tariqa Tandon. »Bis heute sprechen Sportler ungern über das Kastenwesen. In den 90er Jahren schaffte es zum Beispiel Vinod Kambli ins Cricket-Nationalteam. Jeder wusste, dass er Dalit war. Aber er selbst wollte ausdrücklich nicht darüber sprechen«, so die Aktivistin.
Seit mehr als 90 Jahren existiert die indische Auswahl. Unter den mehr als 300 Spielern, die seither zum Einsatz kamen, waren nur vier Dalit. Das liege auch an der Segregation der Gesellschaft, sagt Tandon. In riesigen Metropolen wie Neu-Delhi, Mumbai und Kolkata kommen wohlhabende und benachteiligte Familien fast nie in Kontakt. Sie leben in unterschiedlichen Vierteln, ihre Kinder besuchen unterschiedliche Schulen, Kinos und Sportstätten. Tandon sagt: »Für manche Parks werden Sicherheitskräfte engagiert, um arme Menschen fernzuhalten.« Zudem koste der Zugang zum Leistungssport viel Geld: die Mitgliedsgebühren, die Fahrtkosten zum Trainingszentrum, die Ausrüstung.
Derlei Verhältnisse legen nahe, dass staatliche Maßnahmen kaum Wirkung entfalten. Seit Jahrzehnten reservieren Ministerien, Behörden und Hochschulen bestimmte Stellen und Ausbildungsplätze für Dalit. In den Sportverbänden werde eine bevorzugte Behandlung durch Quoten dagegen selten diskutiert, sagt Tandon. »Wenn jemand das vorschlagen würde, wäre das politischer Selbstmord.«
Dass das mitunter immer noch praktizierte Kastenwesen auch in den Medien eine untergeordnete Rolle spielt, liegt wohl an der zunehmend autoritären Regierung unter Premierminister Narendra Modi. Viele Zeitungen sind wegen des geringen Kaufpreises und niedriger Werbeerlöse auf Anzeigen staatlicher Organe angewiesen. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt Indien daher nicht überraschend nur auf Platz 161 von 180 bewerteten Staaten. »Die Regierung hat den Druck auf Institutionen erhöht, die unabhängig sein sollten«, sagt Tandon. »Anhänger von Modi und seiner Partei wurden in Gerichte und Medien berufen.«
NGOs, die finanzielle Förderung aus dem Ausland erhalten, stehen auch in Indien zunehmend unter Beobachtung der Behörden. Tandon hält es jedoch für möglich, dass Projekte mit Sportbezug eher unter dem Radar bleiben, weil sie der Staat kaum als politisch wahrnimmt. Von dieser Fehleinschätzung könnte auch »Slum Soccer« am Stadtrand von Neu-Delhi profitieren. Sozialarbeiterin Sonam Chaurasiya kann sich damit weiter beim Fußball um Menschen kümmern, die in akuter Armut leben. Viele von ihnen würden in doppelter Hinsicht diskriminiert, sagt sie. »Frauen sind in Indien oft mit häuslicher Gewalt konfrontiert. Und einige Familien nehmen ihre Töchter von der Schule, damit diese sich mehr um den Haushalt und ihre Geschwister kümmern.« Chaurasiya hat sich daher besonders der Förderung von Mädchen im Fußball verschrieben.
Ihre Eltern wollten anfangs nicht, dass sie in der Sozialarbeit eine so präsente Rolle einnimmt. Inzwischen sind sie stolz auf das Engagement ihrer Tochter, denn mittlerweile scheint Sonam Chaurasiya in Seemapuri jeden zu kennen. Und jeder kennt sie.
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