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Todestag von Jina Mahsa Amini: Rückkehr auf die Straße
Zum Jahrestag des Todes von Jina Mahsa Amini im Teheraner Polizeigewahrsam rufen Aktivistinnen erneut zu Protesten auf
Sara* ist verzweifelt und wütend, aber sie hat noch Hoffnung. Die 28-Jährige wohnt in Teheran und hat in den vergangenen zwölf Monaten kein einziges Mal ein Kopftuch getragen, sie hat nicht einmal eines in ihrer Tasche mitgenommen. Ihre Hoffnung setzt sie auch in den Jahrestag des Ausbruchs der, wie sie es nennt, »Frau-Leben-Freiheit-Revolution«, an dem die Straßen des Iran erneut zum Schauplatz von Protesten gegen die Islamische Republik werden sollen. »Ich weiß, dass das keine leichte Aufgabe sein wird«, sagt Sara und verweist auf die Erfahrungen aus den umfangreichen Protesten des vergangenen Jahres und die brutale Unterdrückung durch das herrschende Regime.
Die Vorbereitungen für die anstehenden Proteste sind für Sara und ihre Freundinnen ein ernstes Anliegen: »Wir schreiben nachts erneut Parolen an die Wände.« Zusätzlich druckt Sara Aufkleber mit Botschaften wie »Frau – Leben – Freiheit« oder »Wir kehren zurück auf die Straße« und verklebt sie in Gassen und Straßen, an U-Bahn-Stationen und in U-Bahn-Waggons. Sie sollten die Menschen ermutigen, sich der Bewegung anzuschließen, so Sara.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Die Massenproteste des vergangenen Jahres, die Beobachter*innen den größten Aufstand gegen das islamische Regime in seiner Geschichte nennen, hatten vielen Iranerinnen und Iranern die Hoffnung gegeben, dass der Sturz des Gottesstaates doch möglich ist. Als die Nachricht bekannt wurde, dass eine 22-jährige Frau, die wegen ihres angeblich nicht ausreichenden Hidschabs festgenommen worden war, durch Polizeigewalt ins Koma gefallen und im Krankenhaus gelandet war, war die Stimmung im Land bereits angespannt. Denn der Konflikt rund um die Hidschab-Pflicht, der sich in den vergangenen Jahren permanent zugespitzt hatte, erreichte im Sommer 2022 seinen Höhepunkt. Mit dem Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini, oder, wie die Mehrheit überzeugt ist, mit dem staatlichen Mord an ihr, hatte sich der Kreis der Ereignisse geschlossen: ein Kreis von Gewaltmaßnahmen des Staates zur Umsetzung des Kopftuchzwangs und Widerstandsaktionen der Frauen gegen diesen Zwang.
Kollektiv gegen den Hidschab-Zwang
In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Proteste gegen die Hidschab-Pflicht gegeben. So wurde etwa im Juli 2022 die Autorin Sepideh Rashnu festgenommen, nachdem sie in einem Linienbus mit einer Frau, die sie zur Einhaltung der Hidschab-Regeln hatte zwingen wollen, aneinandergeraten war. Einen Monat zuvor hatte ein Polizist in Teheran auf einen Mann geschossen, der seine Ehefrau gegen die Sittenpolizei hatte verteidigen wollen. Am 12. Juli 2022 gingen nach einem Online-Aufruf Tausende Frauen landesweit ohne Kopftuch auf die Straße, ausgerechnet am staatlichen »Tag des Hidschabs«. In der Folge wurden mehrere von ihnen inhaftiert und zum Teil zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt.
Auch Sara lief an diesem Tag ohne Kopftuch durch die Straßen von Teheran. Sie war stolz, »dass es endlich zu einer kollektiven Aktion gegen den Hidschab-Zwang gekommen ist«. Doch das, was im September folgte, sei viel größer gewesen und habe all die vorherigen Ereignisse in den Schatten gestellt. Sie sei auf die Straße gegangen, solange die Proteste angedauert hätten, sagt Sara, und habe große Hoffnung gehabt, dass es in absehbarer Zeit zum Fall des Regimes kommen würde. Sie verbrachte einige Wochen im November und Dezember in Haft, was sie als Konsequenz ihrer Aktivitäten für die Protestbewegung in Kauf nahm. Als der Sicherheitsapparat es aber geschafft habe, die Straßen aufzuräumen, »natürlich durch pure Gewalt«, so Sara, sei sie enttäuscht gewesen. Sind die Proteste gescheitert? Um diese Frage zu beantworten, brauche man mehr Geduld, sagt sie.
Saba* hingegen sieht die derzeitige Situation pessimistischer: »Wer, der sich nicht Illusionen hingibt, kann glauben, dass die Proteste nicht gescheitert seien und noch andauerten?« Saba und ihre achtjährige Tochter leben in einer Kleinstadt am Kaspischen Meer. »Vor allem, wenn man jene Tage aus nächster Nähe miterlebt hat und die Lavaeruptionen jeden Moment in irgendeinem Teil der Stadt direkt vor seinen Augen gesehen hat. Jede von diesen Eruptionen hatte eine neue Form und Größe: von Grundschulkindern, die ihre Köpfe aus den Fenstern ihres Schulbusses steckten und gemeinsam ein Lied dieser Revolution sangen, bis zum 80-jährigen Großvater deines Freundes, für den dein Freund mit viel Mühe eine Kaution arrangiert hatte, um ihn aus der Untersuchungshaft freizubekommen. Aber zwei Tage später sahst du diesen alten Mann auf einem Platz in der Stadt so laut ›Frau – Leben – Freiheit‹ skandieren, dass sie ihn wieder verhafteten.« Für sie bedeutet das Ende dieser »heißen« Momente automatisch das Scheitern der Proteste. Saba hält es ethisch für nicht zu rechtfertigen, zu behaupten, der Aufstand sei nicht gescheitert.
Viele Formen des Widerstands
Farzaneh*, eine 25-jährige Soziologiestudentin in Teheran, sieht das anders. Auch sie war während der Proteste ständig auf der Straße und blieb von den Schlagstöcken der Einsatzkräfte nicht verschont: »Keineswegs kann man sagen, dass die Proteste misslungen seien. Sie gehen auf eine andere Art und Weise weiter.« Sie weist darauf hin, wie die Proteste das Leben vieler Menschen verändert haben.
Auch Sama Ooryad, feministische Aktivistin und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Göteborg, ist der Meinung, dass der Widerstand sich fortsetzt und vielfältige Formen annimmt: »Zum Beispiel die Art und Weise, wie Frauen und LGBTIQ*-Menschen sich viel selbstbewusster als in der Vergangenheit in öffentlichen Räumen bewegen. Oder wie viele lokale und geheime Aufstandskomitees und Organisationen im vergangenen Jahr entstanden und immer noch aktiv sind«, so Ooryad. Sie setzten den Widerstand von unten fort, indem sie Flugblätter verteilten und geheime Treffen organisierten. Außerdem hätten lokale und internationale Gruppen und Kollektive, die entstanden seien, dazu beigetragen, den feministischen und queeren Diskurs im Iran zu stärken und zu fördern. »All dies sind vielfältige Ausdrücke des Widerstands«, sagt sie abschließend.
Einige behaupteten in den allerersten Wochen des Aufstands noch, das Regime gehe weniger hart als erwartet gegen die Rebellierenden vor. Doch nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen kamen bislang mindestens 500 Menschen bei den Straßenprotesten ums Leben. Sie wurden entweder erschossen oder zu Tode geprügelt; dabei sind zahlreiche Verletzte nicht mitgezählt. So gab es mehrere Berichte von gezielten Schüssen auf die Augen der Protestierenden. Auch wurden mindestens sechs Personen, die während des Aufstands festgenommen worden waren, zum Tode verurteilt und hingerichtet, in einem Tempo, das selbst für die Verhältnisse der Islamischen Republik hoch war. »Hinrichtungen oder andere Formen repressiver Maßnahmen haben Auswirkungen auf den Verlauf von Protesten. Die Menschen haben Angst, zu Recht«, gibt Farzaneh zu.
»Die Todesstrafe spielt eine Schlüsselrolle bei der Schaffung von Angst sowie bei der Beseitigung von Oppositionellen seit der Entstehung der Islamischen Republik«, sagt Sama Ooryad. »Jedoch wird keine Exekution und kein anderes Folter- und Unterdrückungsinstrument langfristig in der Lage sein, dem Unterdrückungsapparat und der herrschenden Struktur zu helfen. Der ›Gott der Exekution der 80er Jahre‹ hat keine Allmacht mehr.« Damit verweist Ooryad auf eine Behauptung des Obersten Führers der Islamischen Republik, Ayatollah Ali Khamenei, der vergangenes Jahr, um sich seiner Anhängerschaft zu vergewissern, sagte: »Der Gott der 80er Jahre ist derselbe Gott dieses Jahres.« Khameneis Aussage lässt sich nicht anders interpretieren, als dass man wie in den 80er Jahren massive Unterdrückungsmaßnahmen bis hin zu Massenhinrichtungen erwarten kann.
Je näher der Jahrestag des Todes von Jina Mahsa Amini rückt, umso angespannter ist die Stimmung. Die Sicherheitsbehörden haben in den vergangenen Wochen Dutzende Aktivistinnen festgenommen, darunter auch Angehörige der Ermordeten – ein klarer Einschüchterungsversuch, um sie davon abzuhalten, zu weiteren Protesten aufzurufen. Trotzdem hat die Familie von Jina die Bevölkerung aufgerufen, am 16. September am Grab der Ermordeten zusammenzukommen und ihrer zu gedenken. Der Aufruf werde nicht nur in Jinas Heimatstadt wahrgenommen, sondern im ganzen Land, sagt Sara. »Wir dürfen nicht zulassen, dass das Blut von Jina und anderen umsonst vergossen wurde.«
*Namen aus Sicherheitsgründen geändert.
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