US-Autogewerkschaft geht aufs Ganze

Die traditionsreiche UAW bestreikt erstmals in ihrer Geschichte alle drei großen Konzerne der Branche

  • Julian Hitschler
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit Freitag stehen die Bänder still. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte führt die traditionsreiche US-Automobilgewerkschaft United Auto Workers (UAW) gleichzeitig einen Arbeitskampf gegen die drei großen Konzerne der Branche in den USA: General Motors (GM), Ford und Stellantis, vormals Chrysler. Gestreikt wird zunächst in drei Werken, je eines pro Unternehmen. Damit will UAW-Chef Shawn Fain, der im Frühjahr mit knapper Mehrheit als Reformkandidat an die Spitze der Gewerkschaft gewählt wurde, die Streikkasse schonen. Unter Fains Führung tritt die UAW deutlich kämpferischer auf als in der jüngeren Vergangenheit.

Die Gewerkschaft fordert 20 Prozent mehr Lohn ab sofort und eine graduelle Erhöhung um insgesamt 46 Prozent über die nächsten Jahre. Auch die betrieblichen Rentenkassen und Alterskrankenversicherungen sollen wieder eingeführt werden. Laut Fain haben die Beschäftigten nach über einem Jahrzehnt der Lohnzurückhaltung »die Schnauze voll«. Die Forderungen sind auch als Ausgleich für die Entbehrungen der vergangenen Jahre gedacht. GM etwa meldete nach der Finanzkrise Insolvenz an, die Beschäftigten beteiligten sich an der Sanierung. Die Krise ist lange überwunden, nur die Belegschaften haben kaum etwas davon. Im GM-Werk in Wayne, Michigan, bei Ford in Toledo, Ohio, und bei Stellantis in Wentzville, Missouri, legten UAW-Mitglieder deshalb die Arbeit nieder. Wenn sich die Autokonzerne in den Verhandlungen nicht bewegen, sollen weitere Standorte folgen, so die UAW.

Die Autokonzerne lehnen die Forderungen als überzogen ab und warnen, die Zukunft der Branche in Nordamerika sei in Gefahr, sollte sich die Gewerkschaft durchsetzen. Die Vorstellungen der beiden Parteien im Tarifkonflikt gehen weit auseinander. Immerhin seien die Gespräche mit Ford seit Streikbeginn produktiv verlaufen, erklärten UAW-Vertreter am Wochenende. Auch Stellantis hat ein neues Angebot vorgelegt und bietet zehn Prozent mehr Lohn sowie eine graduelle Erhöhung der Entgelte um weitere zehn Prozent über viereinhalb Jahre – allerdings beläuft sich die kumulierte Inflation seit 2019 alleine auf 20 Prozent. Mit dem auf den ersten Blick großzügigen Angebot wären also gerade einmal die Reallohneinbußen der vergangenen vier Jahre ausgeglichen.

Gegen die Behauptung, dass höhere Löhne für die Unternehmen nicht tragbar seien, sprechen auch strukturelle Faktoren in der Branche: Der Anteil der Lohnkosten in der US-Automobilbranche ist eher niedrig, da viele Teile von Zulieferern bezogen werden – Experten sprechen von einem einstelligen Prozentanteil. Hinzu kommt, dass die Gewinne der Unternehmen in der Coronakrise explodiert sind: Die Störung der Lieferketten und der daraus resultierende Teilemangel bewirkte, dass die Autokonzerne die Nachfrage nach Neufahrzeugen nicht vollständig bedienen konnten. Infolgedessen stiegen die Preise für neue und gebrauchte Pkw rasant, zeitweilig waren sie einer der Haupttreiber der US-Inflation.

Neben mehr Gehalt und damit einer angemessenen Beteiligung an diesen Rekordgewinnen ist die Abschaffung des verhassten Staffelsystems, das Beschäftigte je nach ihrem Eintrittsdatum in verschiedene Lohngruppen einteilt, eine der wichtigsten Prioritäten der UAW. Es soll unbedingt überwunden werden. »End Tiers« – »Schluss mit Staffeln« – ist auf dem T-Shirt zu lesen, das Fain meist während seiner Kampagnenauftritte trägt. Das System hat zur Folge, dass Arbeiterinnen und Arbeiter für dieselbe Tätigkeit teils dramatisch ungleich entlohnt werden – für das Betriebsklima ist das Gift, und potenziell auch für die Solidarität unter den Beschäftigten.

Doch die Zeiten, in denen die UAW ältere gegen jüngere Mitglieder ausspielte und sich primär auf die Absicherung des Status ersterer konzentrierte, sind vorbei. Denn unter dem Staffelsystem bekommen Berufseinsteiger oft wenig mehr als 15 US-Dollar pro Stunde – ein Lohnniveau, das vielerorts inzwischen auch von Fastfood-Ketten erreicht wird.

Auch der Wandel in der Branche hin zum Elektroantrieb beschäftigt die UAW. Viele US-Werke, die die Elektromodelle von Ford, GM und Stellantis bauen, sind als Joint Ventures mit ausländischen Firmen organisiert und fallen formal nicht unter den UAW-Tarifvertrag. Die Gewerkschaft hat deshalb ein besonderes Augenmerk darauf, diese Belegschaften zu organisieren. »Diese Transformation muss eine gerechte Transformation sein«, betonte Fain in der Politiksendung »Face the Nation«. Im Moment würden die Beschäftigten hängengelassen, obwohl Steuergelder in die Subventionierung von Elektroautos fließen.

Lange Zeit führten die US-Gewerkschaften ein Nischendasein, und der Organisationsgrad verharrt weiterhin nur bei knapp über zehn Prozent – im Privatsektor ist er sogar noch niedriger. Doch um die öffentliche Meinung muss sich die UAW derzeit keine Sorgen machen: Laut einer Gallup-Umfrage unterstützen 75 Prozent der US-Amerikanerinnen die Beschäftigten, lediglich 19 Prozent stehen auf Seite der Konzerne. Auch wenn viele Amerikaner keine praktische Erfahrung mit gewerkschaftlicher Organisierung haben, hegen sie mehrheitlich Sympathien für das Konzept.

Unterstützung erhält die UAW auch aus der weiteren Gewerkschaftsbewegung. Die International Brotherhood of Teamsters, die vor allem im Logistiksektor organisiert, hat angekündigt, Fahrzeuge der betroffenen Unternehmen während des Streiks nicht zu transportieren. Erst vor kurzem hatten die Teamsters beim Logistikkonzern UPS massive Lohnerhöhungen erkämpft – das Unternehmen kam ihren Forderungen im Kern nach, noch bevor es zum Streik kam. Ein Sieg der UAW wäre bereits der zweite spektakuläre Erfolg der US-Gewerkschaften innerhalb weniger Wochen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.