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Musikfest Berlin: Das bürgerliche Leben aufreißen

Berlioz macht keine Atempausen: »Les Troyens« beim Musikfest Berlin kommt jetzt im Radio

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 10 Min.
Es ist auch ein Ansingen gegen »das Bündnis von Seichtheit und Korruption«, wie Georg Knepler es formuliert hätte.
Es ist auch ein Ansingen gegen »das Bündnis von Seichtheit und Korruption«, wie Georg Knepler es formuliert hätte.

Es sind nur wenige Takte aufgeregter Musik vergangen: Zwei Takte nervöses Holzbläser-Gezirpe, dann die von Fagotten und Kornetten über anderthalb Oktaven aufsteigende Startrakete, zu denen sich Hörner und Flöten gesellen, und schließlich ein scharf punktierter Abstieg – eine ganze Oper in nuce weniger Takte. Es ist angerichtet!

Doch was passiert jetzt? Die Sänger*innen des grandiosen Monteverdi Choirs drängen sich in wilden Bewegungen vor das und hinter das Orchester auf die Bühne und artikulieren erregt jauchzend den Friedensgesang der Trojaner nach elend langer Belagerung durch die Griechen: »O Seligkeit, wir atmen frei, selig atmen wir der Felder reine Luft, die der Schlachtrufe Gellen fortan nicht mehr durchhallt.«

Durch die halbszenische Aufführung von »Les Troyens«, der »Grand Opéra« von Hector Berlioz, durch das vehemente Agieren des Chors werden wir gleich mitten in die Handlung und die Musik hineingezogen – ein brillanter Regieeinfall dieser Aufführung beim Berliner Musikfest, wo Dinis Sousa das Orchestre Révolutionnaire et Romantique und den Monteverdi Choir Anfang des Monats dirigierte. Nun gibt es die Aufführung in zwei Teilen in Deutschlandfunk Kultur zu hören.

So einfach, wie sich die Trojaner das mit dem Frieden vorstellen, ist die Lage nicht: Die Griechen sind zwar fort, aber sie haben ein riesiges hölzernes Pferd hinterlassen, das die Trojaner in ihrem Friedenstaumel noch vor Einbruch der Nacht in ihre Mauern ziehen wollen. Auftritt Kassandra (herausragend: Alice Coote), die als Einzige den »düsteren Plan« erkennt und in einer eindringlichen Arie den König warnt: »Unsel’ger Fürst! In ew’gen Dunkels Bann wirst rettungslos du bald entschwinden. Verweigerst mir Gehör; willst Künft’ges nicht ergründen, unsel’ge Heimat, unsel’ges Volk, das ich nicht warnen kann!«

Von welch bedrohlicher Aktualität dieser Gesang ist! Wann haben wir in der jüngeren Vergangenheit jemals auf Kassandra-Gesänge gehört? Günther Anders hat in den 1950er Jahren in seinen Büchern von der »Antiquiertheit des Menschen« geschrieben und davon, »dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können; und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen«. Oder denken wir an den Club of Rome, der 1972 seinen Bericht »Grenzen des Wachstums« veröffentlicht hat, um nur zwei wesentliche von vielen aktuelleren Kassandra-Rufen zu benennen, denen »wir« keine Beachtung geschenkt oder die wir jedenfalls nicht zum Anlass einer dringend nötigen Wende, ja einer tatsächlichen Revolution genommen haben. »Was uns naht ist der Tod, nicht die Stunde des Glücks«, weiß Kassandra, doch ihr Verlobter – und mit ihm die Welt unserer Tage – hält das alles für übertreibenden Wahn und ignoriert so wie das trojanische Volk ihre Weissagungen. Und alle werden sie zugrunde gehen.

Hector Berlioz hat selbst das Libretto zu seiner Oper geschrieben, in Anlehnung an die ihm seit Kindestagen vertraute »Aeneis« von Vergil, doch er hielt sich eher an eine an Gluck oder Spontini orientierte Formensprache und Dramaturgie und stellte sich so bewusst gegen die in Paris zur Mitte des 19. Jahrhunderts populäre Librettistik, aber auch gegen das neue Opernbusiness der damaligen Zeit. Die Revolution von 1848 brachte die »Vervollständigung der Herrschaft der Bourgeoisie«»(Karl Marx), kurz darauf gelang dem Neffen Napoleons, Louis Bonaparte, ein Staatsstreich, und er vollzog eine forcierte Herrschaft des Kapitalismus. «Mit unsichtbaren Ketten war die Musik an diese Welt der Lüge und Ausbeutung gefesselt», schreibt der Musikwissenschaftler Georg Knepler in seiner unverzichtbaren «Geschichte der Musik des 19. Jahrhunderts».

Hier kann man den Wandel des Musikgeschäfts erleben, der bis heute das Musikleben beherrscht, das von ideologischen Schutzwällen geprägt ist und von bezahlten Claqueren, von (damals: Pariser) Großverlegern, die gleichzeitig als Herausgeber der wichtigsten Musikzeitschriften die öffentliche Meinung beherrschten, bis hin zur Privatisierung von zuvor staatlichen Theatern und Opernhäusern wie der Pariser Grand-Opéra («eine Kunstform und ein Geschäft», William C. Crosten), was dazu führte, dass die Kunst sich dem Kommerz zu unterwerfen hatte, und mit ihr die Komponisten und Musiker. «Wer sich mit dem offiziellen Musikleben verbündete, wer den Preis der Erfolge zu zahlen bereit war, musste seine künstlerische Integrität aufgeben. Große Kunst war in dieser Bürgerwelt nur noch gegen das Bündnis von Seichtheit und Korruption möglich, das im offiziellen Musikleben herrschte.» (Knepler) Eine Blaupause der gegenwärtigen Situation, gewiss…

Berlioz, der bei der Revolution von 1830 mit den Massen auf die Straße ging, die Marseillaise instrumentierte und sich in späteren Jahren dem utopischen Sozialismus von Saint-Simon verschrieb, war sich der Problematik völlig bewusst; in seinen Memoiren beschreibt er immer wieder die unglückselige Situation eines unabhängigen Komponisten, etwa, dass man, «um jetzt einen Erfolg zu erzielen, bar, viel und oft bezahlen muss. Man frage unsere großen Meister, was sie der Ruhm durchschnittlich im Jahre kostet». Und selbst für die verstümmelte Uraufführung des zweiten Teils von «Les Troyens» griff Berlioz ins Portemonnaie und bezahlte einige Sänger*innen, um die Qualität der Aufführung zu retten.

Jedenfalls handelt es sich hier um ein grandioses Libretto, das «in seiner Sprache wie in der Mischung aus dramatischer Aktion, Bericht und lyrischer Meditation großartig gelungen ist», wie Michael Stegemann im Programmheft schreibt. Man könnte sagen: Berlioz hat seiner Komposition den Text auf den Leib geschrieben. Der französische Sprachsound klingt prächtig zu der hinreißenden und vielfältigen Musik dieser Oper mit all der Berliozschen faszinierenden und einzigartigen Instrumentationskunst, seinem Talent für wunderbare Melodien und für fantastische Sänger*innen-Quintette und Sepetette und nicht zuletzt für seine herausfordernden und brillanten Chöre. Berlioz macht keine Atempausen, nimmt keine Gefangenen, in einem fort zieht der geradezu unheimliche Sog dieser Komposition die Zuhörer*innen in den Bann.

Herrlich, wie Berlioz aus einem hymnischen Marsch der Trojaner – «der Freiheit Segen» und «brausender Jubel» singt der Chor – zunächst Kassandra-Rufe hervorquellen lässt, um dann erst den Tod des Priesters Laokoon und schließlich den dramatischen Untergang Trojas darzustellen. Die «Schmerzensakzente» (Berlioz) der Kassandra an einigen Stellen der «Einnahme von Troja» sind einzigartig, doch Berlioz konnte sie nie in einer Aufführung hören. Das führende Pariser Opernhaus, die Grand-Opéra, verweigerte eine Aufführung: Der «gegenwärtige Dirigent bekennt sich zu den sonderbarsten Meinungen» über seine Musik, und «die beiden anderen ihm unterstellten musikalischen Leiter sind Feinde von mir», so der Komponist in einem nie abgesandten Brief an den Kaiser. Die Theaterverwaltung verleumdete seine Arbeit «als absurd und unsinnig», schrieb Berlioz, der nach verzweifelten Kämpfen «Les Troyens»« 1863 dem ungeeigneten Théâtre Lyrique in einer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Version zu einem »Versuch der Aufführung« überlassen musste. Obwohl das »Theater nicht groß genug, seine Sänger nicht gut genug, und ebensowenig Chor und Orchester ausreichend« waren, wie Berlioz in seinen sehr lesenswerten Memoiren konstatierte.

Er war bei der Uraufführung des Karthago-Teils der Oper (also des 3. bis 5. Akts) auf »alle möglichen feindseligen Kundgebungen gefasst«. Und in der Tat gab es nach der Aufführung »lange Reden von komischer Vehemenz«, »Verwünschungen« und Behauptungen, »eine solche Musik könne und dürfe nicht erlaubt werden«. Fünf Zeitungen veröffentlichten »die dümmsten Injurien, die sie finden konnten, um den Künstler in mir möglichst grausam zu verletzen«, so Berlioz. Eine deprimierende Situation, in der die damals aktuelle populäre Musik in Paris über einen kompositorischen Geniestreich und »die Kühnheit und Mannigfaltigkeit der dabei angewandten Mittel« obsiegte.

Auch und gerade für uns Heutige bietet »Les Troyens« eine Unmenge an Anregungen, Vorschlägen und sogar Handlungsanweisungen. Es ist ja kein Zufall, dass überall dort, wo es um Liebe und Frieden geht, die wunderbarsten langgeschwungenen Melodien zu hören sind, etwa im berühmten Liebesduett von Dido (die wunderbare Paula Murrihy) und Aeneas (der Startenor Michael Spyres), das auch bei der Berliner Aufführung zum Zentrum und zu einem gesanglichen wie dramatischen Höhepunkt geriet. Doch das Ges-Dur wird am Ende von weit abgelegenen Dreiklängen untergründet – da stimmt etwas nicht, und so ist es, die Geistergestalt des Merkur taucht auf und erinnert Aeneas, den Helden, an seine von Kassandra beschworene Verpflichtung, in Italien ein neues Troja zu gründen, das noch »größer und schöner« werden soll.

Aeneas ist hin und her gerissen: Da ist die große Liebe zu Dido, die ihm und seinen Asylsuchenden eine freundliche Aufnahme und ein ungeteiltes Willkommen bereitete (sagte ich schon, dass diese Oper brandaktuell ist?) – und auf der anderen Seite die Pflichterfüllung. Ein typischer Konflikt, »den das bürgerliche Leben aufriss, indem es Sehnsucht, Frieden, Liebe und Pflicht in unlösbaren Widerspruch zueinander setzte« (Knepler). Man denke auch an die von Maxim Gorki beschriebene Szene, wonach er mit Lenin bei einem Hauskonzert einer Aufführung von Beethovens »Appassionata« beigewohnt hat, die ihn sichtlich ergriffen hat. Doch dann zeigte Lenin seine »berühmte paranoide Reaktion« (Žižek): »Nachdem er zunächst vor Rührung zu weinen begonnen hatte, erklärte er später, dass es sich ein Revolutionär nicht leisten könne, sich derartigen Gefühlen zu überlassen, da diese ihn schwächen und gegenüber den Feinden nachsichtig stimmen würden.«

Nun, Aeneas hat es nicht mit dem bürgerlichen Konflikt zwischen Liebe und Pflichterfüllung zu tun und auch nicht mit dem vermeintlichen Problem eines Revolutionärs; nein, Aeneas hat mit den Göttern zu dealen, und da bleibt ihm letztlich wenig anderes übrig, als sich ihnen beziehungsweise dem vermeintlichen »Schicksal« zu unterwerfen und Karthago und Dido zu verlassen. Das Liebesglück ist zu Ende, »es hat keinen Bestand, Frieden und Ruhe waren nur eine Episode« (Knepler).

Es sind die Frauenfiguren, für Berlioz die »zwei alles beherrschenden Figuren«, um die es in dieser Oper geht: Da ist Kassandra, die als einzige den Untergang Trojas voraussieht und letztlich aus Verzweiflung mit ihren Leidensgenossinnen einen kollektiven Selbstmord begeht. Und da ist Dido, die nicht nur eine wahrhaft und unendlich Liebende ist, sondern auch eine sehr menschenfreundliche Königin, die anlässlich des Jahrestags der Gründung Karthagos »die Konstrukteure«, »die Matrosen« und »die Arbeiter« ehrt, also all diejenigen, denen der Bau der Stadt zu verdanken ist. Dazu schreibt Berlioz, wen wunderts, Melodien von rührender Naivität und Vollkommenheit. Ebenso am Anfang des Schlussaktes das Lied eines jungen Matrosen, der sich nach der Heimat (also einem utopischen Ort des Glücks) sehnt und doch sicher ist, sie nie wiederzusehen. Ergreifend, wie Laurence Kilsby diese Arie gestaltet. Und der Dirigent Dinis Sousa als Ersatz des nach einer Ohrfeigenaffäre von weiteren Aufführungen zurückgetretenen John Eliot Gardiner führt das wunderbare Orchestre Révolutionnaire et Romantique mit seinem Originalklang und den sensationellen Monteverdi Choir aufs Selbstverständlichste und Gelungenste bis hin zum Tod der Dido, der von hypnotisierenden Holzbläsern begleitet wird, durch diese Aufführung, an die sich alle, die sie miterleben durften, noch lange erinnern werden.

»Nichts mehr kann verhindern, dass sie (die Partitur) da ist. Es ist etwas Großes und Starkes und, trotz scheinbarer Kompliziertheit der Mittel, sehr Einfaches.« So Hector Berlioz in furiosem Trotz angesichts der Zeitumstände und der Ignoranz der Musikindustrie und auch des Publikums gegenüber seiner Oper, die sich bis heute fortsetzt. Doch »Les Troyens« ist ein beeindruckendes und zutiefst ergreifendes Meisterwerk. Opernhäuser – macht euch dieses Werk zu eigen und führt es endlich allüberall auf!

Deutschlandfunk Kultur sendet die Berliner Aufführung von »Les Troyens« in zwei Teilen: Akt 1 und Akt 2 am 22. September ab 20.03 Uhr, Akt 3 bis 5 am 23. September ab 19.05 Uhr.

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