Aserbaidschans Artillerie schweigt

Vertreter der Armenier in Berg-Karabach treffen sich mit der aserbaidschanischen Seite

  • Bernhard Clasen, Baku
  • Lesedauer: 6 Min.

Nach der Vereinbarung einer Feuerpause wollen sich Vertreter der angegriffenen Südkaukasus-Region Berg-Karabach mit der aserbaidschanischen Seite treffen. Die Behörden der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Regionen haben Gesprächen an diesem Donnerstag in der aserbaidschanischen Stadt Jewlach zugestimmt, meldete die armenische Nachrichtenagentur Armenpress am Mittwoch. Aus der aserbaidschanischen Präsidialverwaltung hieß es, nach der Kapitulation der Armenier sollten »Fragen der Wiedereingliederung« Berg-Karabachs besprochen werden. Damit ist die Region nur knapp an einem dritten Krieg um das Gebiet Berg-Karabach vorbeigeschlittert, das von Armeniern bewohnt wird, völkerrechtlich aber zu Aserbaidschan gehört.

Die armenischen Behörden haben vom Waffenstillstand und den Vereinbarungen zwischen Aserbaidschan und der nicht anerkannten Republik Berg-Karabach aus offiziellen Quellen erfahren, sagte der armenische Premierminister Nikol Paschinjan. Armenien, so Paschinjan, sei nicht in die Verhandlungen über den Waffenstillstand und die zwischen Aserbaidschan und Karabach getroffenen Vereinbarungen einbezogen worden. Man nehme die Erklärung der Behörden des nicht anerkannten Karabach zum Waffenstillstand »zur Kenntnis«, so Paschinjan.

Am Dienstag hatten Streitkräfte der aserbaidschanischen Armee die von keinem Staat anerkannte »Republik Nagornij Karabach« angegriffen. Deren Menschenrechtsbeauftragter, Gegam Stepanjan, sprach von mindestens 27 Toten, darunter mindestens sieben Zivilisten: drei Frauen, zwei Kinder und zwei Männer. Mehr als 200 weitere Menschen seien verletzt, mehr als 7000 Bewohner aus 16 Orten vor dem aserbaidschanischen Beschuss in Sicherheit gebracht worden. Aserbaidschanischen Angaben zufolge sei die Armee nur gegen militärische Ziele vorgegangen.

In einem bis 1994 dauernden Krieg, der seine Anfänge Ende der 80er Jahre hatte und 1994 mit einem Waffenstillstand endete, waren 30 000 Menschen ums Leben gekommen. 2020, beim Angriff Aserbaidschans auf Karabach, waren es mehrere Tausend Tote.

Bei einem Besuch von Uferpromenade und Stadtzentrum im Herzen von Baku am Dienstag ist von den Gefechten um Berg-Karabach nichts zu spüren. Keine besonderen Kontrollen, keine überdurchschnittliche Polizeipräsenz. An einem lauwarmen Abend flanieren junge Frauen und Männer am Ufer des Kaspischen Meeres, die Cafés haben an diesem warmen Herbstabend Hochbetrieb bis in die späten Abendstunden. An der Strandpromenade jagen Roller über das Pflaster.

Ein paar Hundert Meter weiter, dort, wo viel Verkehr ist, dringen Bässe lautstarker Musik aus Autos mit heruntergekurbelten Scheiben. Viele Döner-Stuben haben bis weit nach Mitternacht geöffnet, Lebensmittelläden rund um die Uhr und Taxifahrer müssen nicht lange auf ihre Kunden warten. Ein israelisches Ehepaar wendet sich hilfesuchend an einen 60-jährigen Mann, will wissen, wie man bei diesem dichten Verkehr auf die andere Straßenseite gelangen kann. Einen jüngeren Passanten wollten sie nicht ansprechen. Die Jugend spricht Aserbaidschan, kein Russisch.

»Die könnten es so schön haben bei uns in Aserbaidschan«, sagt Elchin, während sich sein Auto durch einen Stau auf der Heydar-Alijew Chaussee quält. Er ist Regierungsbeamter und holt seinen Gast vom Flughafen, dem Heydar-Alijew-Flughafen, in Baku ab. Stolz zeigt er diesem den schönen, weißen muschelartigen Bau des Heydar-Alijew-Museums, an dem die Chaussee vorbeiführt. Baku verbirgt seinen Reichtum nicht. »Die Armenier in Karabach müssten nur eines machen: einen aserbaidschanischen Pass beantragen und ihre eigene Armee aufgeben. Und dann wäre es in Karabach so schön wie bei uns«, sagt er und ist etwas gekränkt, dass diese so ein Angebot nicht annehmen wollen.

Ganz anders die Situation in Berg-Karabach: Die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina berichtet »nd« von mehreren Gesprächen, die sie am Mittwochmorgen über Messenger-Dienste mit einer alten Freundin geführt hat, die in Khankendi/Stepanakert als Lehrerin arbeitet. »Wir sitzen alle in den Kellern«, so die Lehrerin zu Gannuschkina. »Auf der Straße Schreie und am Himmel die Drohnen, deren Geschosse auf uns herunterregnen« berichtet Gannuschkina. »Immer wieder wurde unser Gespräch von lauten Explosionen gestört«, so Gannuschkina. In den sozialen Netzen machen Videos die Runde, die zeigen, dass sehr wohl Zivilisten von den aserbaidschanischen Waffen getroffen worden sind.

Ein Opfer der jüngsten Gewalt in Karabach sind auch die armenische und aserbaidschanische Zivilgesellschaft, die sich häufig auf neutralem Territorium getroffen haben. »Was wir heute erleben, das sind ethnische Säuberungen«, meint Jurij Manweljan, Journalist des Portals epress.am, am Mittwochvormittag gegenüber »nd«. Und er vermisst den Widerstand dagegen in Aserbaidschan. »Angenommen, meine Nachbarn in Jerewan würden einfach so verschwinden, das würde ich doch auch öffentlich machen. Und deswegen frage ich meine Kollegen der aserbaidschanischen Zivilgesellschaft ganz konkret: Warum schweigt ihr, wenn eure armenischen Nachbarn aus Karabach vertrieben werden?« Die Armenier*innen werten die Evakuierungsangebote der aserbaidschanischen Seite als Versuch einer ethnischen Säuberung von Berg Karabach.

»Ich war am ersten Tag einfach nur geschockt, handlungsunfähig«, sagt Arsu Abdullajewa, Vorsitzende der aserbaidschanischen Helsinki Citizens Assembly, in einem Gespräch mit »nd« in Antwort auf diesen Vorwurf. »Ich bin gerne bereit zu einer Zusammenarbeit mit Juri Manweljan«, so Abdullajewa, auch »mit anderen Kollegen der armenischen Zivilgesellschaft.«

Erschwert werde eine Zusammenarbeit mit der armenischen Zivilgesellschaft auch durch Vorgaben des aserbaidschanischen Staates, Abdullajewa. So habe das aserbaidschanische Verteidigungsministerium angeordnet, nicht den Begriff »Krieg« zu verwenden, wenn von der aktuellen »Antiterror-Operation« die Rede sei.

Während in Karabach am Mittwochvormittag noch gekämpft wurde, ist es an
der armenisch-aserbaidschanischen Grenze ruhig. Arman Abowjan, Ex-Abgeordneter, Fernsehjournalist und politischer Analyst, will daran nicht so recht glauben: »Die Türkei will eine große gemeinsame Grenze mit Aserbaidschan auf dem Landweg und eine gemeinsame Grenze über das Kaspische Meer nach Zentralasien. Dort sind mit Ausnahme von Tadschikistan alle Länder
turksprachig und bereits jetzt unter türkischem Einfluss.« Die Türkei habe ihre militärische Einflusszone seit 2014 um Libyen, Syrien und Zypern erweitert. »Nun müssen wir diesen aggressiven Kurs der Türkei in unserer Region beobachten …«, so Abowjan zu »nd«.

Auch wenn der Waffenstillstand halten sollte, wird nichts mehr so sein wie vorher – vor allem im Verhältnis Armeniens zu Russland. In einem bösen Tweet hatte Dmitri Medwejew, stellvertretender Chef des russischen Sicherheitsrates, Armenien unterstellt, selbst schuld zu sein an dem Krieg. Und es stellt sich die Frage, ob Aserbaidschan bei der Eingliederung der armenischen Bevölkerung von Karabach behutsam vorgehen wird. Schauprozesse gegen Separatisten wären das Letzte, was das Land jetzt gebrauchen könnte.

* Anmerkung: die Reise von Bernhard Clasen wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.

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