Bratwurst: Es wird sich alles zum Guten wenden

Food for Thought (Teil 13 und Schluss): Wurst und Demokratie

  • Alexander Estis
  • Lesedauer: 5 Min.

Durch sämtliche ungestopften Sommerlöcher der deutschen Journaille drang Ende August die frohe Kunde: Auf Wunsch der Belegschaft kehrt die Currywurst endlich in die mediennotorische Wolfsburger VW-Kantine zurück, aus der sie zwei Jahre zuvor unter skandalisierenden Protesten verbannt wurde – im Dienste des Umwelt- und Tierschutzes, zu dessen wichtigstem Vorkämpfer sich der Verbrennungsmotorenhersteller Volkswagen auf diese Weise offenbar geadelt wissen wollte.

Als »Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters in der Produktion« hatte damals ein empörter, mehr volkswagen-, denn volksnaher Altkanzler die Currywurst bezeichnet. Angesichts dieser Parole wiederum lag die Frage nahe, ob damit der Arbeiter vor kulinarisch-moralischer Entwurstung in Schutz genommen oder vielmehr seine eigene Verwurstung innerhalb des Produktionsprozesses affirmiert wurde: Dieser Vorstellung gemäß muss man nämlich in den Arbeiter, den eigentlichen Verbrennungsmotor der Industrie, nur brav Kraftriegel einspeisen, auf dass Arbeitskraft herauskomme.

Säße er noch im Aufsichtsrat von VW, wetterte Wurstgerd weiter, hätte es solch entrüstende Entwurstung nicht gegeben. Zu schade, dass er nicht erst seit seinem Amtsaustritt lieber die Aufsichtsräte russischer Öl- und Gasunternehmen frequentiert – heimische Volkswagenwurst schmeckt eben doch nicht so fein wie kaspischer Kaviar. Aber mit Gazpromiskuität hatte das natürlich nicht im Geringsten zu tun, schließlich ist so eine Pipeline auch nichts anderes als eine lange Gaswurst. Umgekehrt hätte Schröder sein staatsmännisches Engagement für die Wurst jederzeit mit den gleichen Worten verteidigen können wie dasjenige für Nord Stream: »Meine Unterstützung der Currywurst hatte ausschließlich mit Interessen Deutschlands und Europas zu tun. Der Fresshunger in Europa ist nicht zu stillen ohne den Fleischreichtum der Wurst.«

Food for Thought

In unserer diesjährigen Sommerreihe widmen wir uns der Kulinarik – in ihrer sinnlichen, sozialen und politischen Dimension.

Auf Twitter empfahl man dem besorgen Alt- und Autokanzler damals sinnigerweise, Impfwürste zu verteilen. Wie Sie sich erinnern werden, gab es in jenen sinistren Zeiten zwar schon eine Impfung gegen das Virus, aber noch keine gegen Ignoranz und Renitenz. Naturgemäß erkannten die Thüringer jedoch als erste, dass nichts den gesunden Menschenverstand so schnell zurückbringt wie die Aussicht auf feistes Grillgut: Wer sich in Sonneberg impfen ließ, erhielt daher eine Bratwurst. Die Impfkampagne war von Erfolg gekrönt; die Medien berichteten: »Thüringen hat angebissen.« Gleich um sechs Uhr in der Früh wurde die erste Bratwurst geholt.

Derartige Anreize sind alles andere als eine Novität. Schon bei Homer kämpft der als armer Greis verkleidete Odysseus mit einem bösartigen Bettler um den Preis von »Geißmagen gelegt auf glühende Kohlen, / Welche, mit Fett und Blute gefüllt, wir braten zur Nachkost« – also um eine antike Form von Bratwürsten. Und die Aussicht auf eine solche Prämie wirkt offensichtlich weitaus besser als die Drohung, die an den Gegner des Odysseus ergeht: Im Falle einer Niederlage werde man ihn einem grausamen König ausliefern, auf dass ihm dieser Nase und Ohren mit dem Schwert verstümmele und »die entrissene Scham vorwerfe zerfleischenden Hunden«. Diese makabre Abschreckung, dieser drohende Würstchenverlust verfängt nicht – und der feindselige Bettler wird von Odysseus mit einem einzigen Schlage niedergestreckt.

Überhaupt war es früher durchaus Tradition, dass Sieger volkstümlicher Wettkämpfe Würste erhielten. Oder aber es ging im Wettkampf wörtlich um die Wurst – beim Wurstangeln, Wurstklettern oder Wurstschnappen. Möge die Menschheit und insbesondere Vater Staat von diesen alten Riten – wie auch von den pragmatischen Thüringern – lernen und auch fürderhin weniger auf Strafandrohung als auf Belohnung durch Würste setzen.

So könnten wir auch im Umgang miteinander anstelle des ohnehin meist missdeuteten biblischen Talionsprinzips »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, dessen zweiter Teil immerhin schon in die gastronomische Richtung zu weisen scheint, die alte Bauernformel »Wurst wider Wurst« etablieren. Dabei versteht sich das reziproke Wurstprinzip mitnichten als Vergeltungsgrundsatz, sondern umgekehrt als eine appetitlichere Form der Idee, dass eine Hand die andere wäscht. Diesen beziehungsstabilisierenden Wurstaustausch schilderte schon Hoffmann von Fallersleben in einem Gedicht: Erst wird darin Nachbar Claus mit verschiedensten Würsten bedacht; doch auch

Der Nachbar Claus vergißt uns nicht,

Er schickt uns, wie das Sprichwort spricht,

Wurst, Wurst, Wurst, Wurst wider Wurst,

Und das ist auch so übel nicht.

In der Tat ist dies gerade der Gegensatz von übel: Die Epiphanie einer Wurst darf stets als sicheres Omen dafür gelten, dass sich alles zum Guten wenden wird. Wenn manche Linguisten das Wort Wurst von einem Stamm mit der Grundbedeutung »wenden« herleiten, erscheint dies also nur dem oberflächlichen Blick als Zufall. Nach anderer etymologischer Auffassung gehört »Wurst« allerdings zur gleichen Wurzel wie »wirr«, stellt also auf die Vermischung der Zutaten ab; damit hätte die Wurst etwas inhärent Vermengendes, Verschmelzendes, Versöhnliches.

Vielleicht ist das Versöhnliche an der Wurst aber zuvorderst der gemeinhin bekannte Umstand, dass sie nicht bloß ein Ende hat, sondern deren zwei: Sie macht uns eine demokratische Vorstellung schmackhaft, der gemäß selbst die entgegengesetzten Pole zu ein und demselben Gebilde gehören, ist doch die Wurst ihrem Wesen nach nichts anderes als die fleischgewordene Verbindung zweier Enden. Den Scharfmachern der wutbürgerlichen Küche ist es zu verdanken, wenn unsere Gesellschaft immer mehr einer zerstückelten und nur notdürftig von dosendemokratischer Fertigsoße übertünchten Currywurst gleichen mag.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.