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Seemannsköpper: Der schönste aller Sprünge
»nd«-Kolumnistin Anne Hahn über einen wunderbaren letzten Tag im Freibad am Ende des Sommers
»Sie mag die Terrasse. Sie mochte die Terrasse schon, als Rüdiger sie ihr auf dem Millimeterpapier gezeigt und den Effekt erklärt hatte, den er damit beabsichtigte. Aus dem Schatten hinaus ins Licht. Auf eine Bühne, wie sie hoch über dem Lago Maggiore sich erstrecken müsste, ein mondäner Aussichtspunkt auf das große Blau.«
Am letzten Samstag der diesjährigen Saison besuche ich das Sommerbad Humboldthain, mit den Gedanken beim kürzlich erschienenen Roman Arno Franks – Seemann vom Siebener. Das Buch spielt im Freibad von Ottersweiler, irgendwo im Westen Deutschlands, auf dem Land. Für eine Handvoll Menschen ist dieser Sommertag lebensentscheidend – wie für die ehemalige Lehrerin Isobel, deren Mann das Bad einst entwarf. Das Freibad als Bühne: der schrullige Bademeister Kiontek, die kettenrauchende Kassenfrau Renate und der ewig witzelnde Kioskbetreiber Sergej. Kiontek wohnt nebendran mit dem Papagei Heinrich, den er von seiner Mutter geerbt hat. Er weiß nicht, dass seine Mutter sehr eng mit der Architektenwitwe Isobel befreundet war und freiberuflich viel telefonierte. Der Papagei krächzt: »Komm her, du geiler Bock«, die Gäste strömen ins Bad.
Das Freibad des Humboldthains liegt mitten im Park. Durch ein liebevoll gepflegtes Blumenrondell betritt man die erhöhte Ebene mit Bänken rechts und links der zentralen Schleuse und schaut links auf die Duschen und Umkleiden, den Imbiss und den Kunst-Pavillon, geradezu auf das Ein-Meter-Sprungbrett, den doppelstöckigen Bademeisterturm, das Planschbecken und die Rutsche mit Mündung ins riesige 50-Meter-Becken. Unter hohen Bäumen gibt es ringsum Wiesen, Bänke und einen Kletter-Fisch, hinter Birken lagert gesägtes Holz.
Im Roman gibt es ein zentrales Objekt: den Drei-, Fünf-, und Siebeneinhalb-Meter-Sprungturm. Der Sprungturm ist für Zuschauer gebaut, denkt Lennart, der Fotograf, der zur Beerdigung eines alten Freundes anreist. Er will die Erinnerung an die Sommer seiner Jugend mit der Realität abgleichen und findet alles unverändert. Außer Joe, dem Mädchen, das er mit sechzehn täglich fotografierte. Die seinen besten Freund heiratete, der jetzt tot ist. Joe steht in der Umkleide und denkt an den Sex, den sie seit Jahren nicht mehr hatte, eine Kindergartentruppe spielt im Sand, Isobel schaut über das Bad und denkt wirr, ein Mädchen klettert die Leiter zum Turm hoch und will den Seemann vom Siebener springen – ihren Bruder im Schlepptau, der sie davon abzuhalten versucht.
»Der Seemann ist der schönste aller Sprünge. Weil er so schlicht wirkt … Im Grunde ist er ein simpler Kopfsprung, nur mit den Armen hinter dem Rücken.«
Bademeister Kiontek verdrängt, dass ein Jugendlicher zu Tode kam, der in einer Herbstnacht bekifft vom Siebener sprang. Im Becken stand nur noch ein halber Meter Wasser. Jetzt ist der Siebener gesperrt, bis das Mädchen plötzlich dort oben steht. Mit feinem Humor malt uns Arno Frank in seinem Roman einen abgründig klaren Badetag aus. Ich schwimme abwechselnd Brust und Rücken, genieße das kühle Wasser bei vollem Sonnenschein. Könnte Isobel mit ihrer weißen Badekappe neben mir vorbeigleiten? Ich halte Ausschau nach Joe und Lennart, die sich im Roman am Boden des Sprungbeckens wiederfinden und staune über ein Mädchen, das einen Flickflack vom Einer springt. Es riecht nach Pommes und regennassem Gras. Ein wunderbarer letzter Tag im Freibad am Ende des Sommers. »Die schlichte Seligkeit. Solche Orte gibt es nirgendwo sonst auf der Welt«, denkt Lennart und ich wundere mich kaum, als beim Ausgang ein Grünspecht über die Wiese stakst.
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.
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