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Alles dargestellt, nichts begriffen

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat eines ihrer neuesten Informationshefte der sozialen Ungleichheit gewidmet. Darin wird der Zustand der hiesigen Klassenverhältnisse zutreffend und umfassend dargestellt – aber nicht analysiert

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 6 Min.
Zementierte Ungleichheit: Das Symbolbild zierte auch die Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung, wohl um zu zeigen, wie unverrückbar die sozialen Verhältnisse sind.
Zementierte Ungleichheit: Das Symbolbild zierte auch die Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung, wohl um zu zeigen, wie unverrückbar die sozialen Verhältnisse sind.

Vor über 30 Jahren erklärte der gerade emeritierte marxistische Politikwissenschaftler Johannes Agnoli, warum er sich stets der »Kritik der Politik« und nicht etwa einer kritischen Politikwissenschaft verpflichtet gefühlt hatte. Unter dem programmatischen Titel »Destruktion als Bestimmung des Gelehrten in dürftiger Zeit« griff er 1990 in der Zeitschrift »konkret« jene den »Endsieg der westlichen Ordnung« feiernden, sich selbst jedoch weiterhin als progressiv und kritisch deklarierenden Intellektuellen frontal an: Im Angesicht der Erosion des realen Sozialismus wirkten sie kräftig mit »an der Festigung des Ordnungsgefüges, der Wertesysteme, der kommunikativen Interaktionen; an der Etablierung der Neuen Staatsbürgerlichkeit, der Neuen Inner- und Äußerlichkeit, der Neuen Funktionalität«, so Agnoli.

Die Haltung der Intellektuellen wäre ihm vermutlich kaum eine Erwähnung wert gewesen, hätte es sich um reine Affirmation oder gar Verrat gehandelt. Der 2003 Verstorbene, dessen Schriften »Die Transformation der Demokratie« und »Der Staat des Kapitals« prägend für die außerparlamentarischen Bewegungen gewesen waren, sah aber insbesondere in der Verpflichtung auf die »konstruktive Kritik« die überragende Integrationskraft dieser »gelehrten Welt«. Darin würden die offensichtlichen Widersprüche im Kapitalismus nicht verschwiegen, die herrschenden Zustände im Ganzen aber unangetastet gelassen. So verlören die dargestellten Missstände »ihre Wirklichkeit und verwandeln sich in korrigierbare Zufälle, für deren Beseitigung die bekannte Selbstreinigungskraft (des Marktes, der Macht, der Parlamente) zuständig« sei.

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Bildungsarbeit als integrierende Kritik

Ein glänzendes Beispiel für das Fortbestehen solch integrierender Kritik stellt die kürzlich in der Reihe der »Informationen zur politischen Bildung« publizierte Broschüre dar, die die »Soziale Ungleichheit« in der Bundesrepublik behandelt. Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) kann die Bedeutung dieser »schwarzen Hefte« kaum hoch genug eingeschätzt werden. Dafür sind nicht nur die riesigen Auflagen verantwortlich – die Erstauflage beträgt immerhin 400 000 gedruckte Exemplare und bei brisanten Themen folgen in der Regel weitere Auflagen. Vor allem dienen die kostenlos zu beziehenden Themenhefte im schulischen Geschichts- und Politikunterricht überall in der Bundesrepublik als nahezu unverzichtbares Grundlagenmaterial. Kaum ein*e Schüler*in zwischen Freiburg und Flensburg dürfte in den vergangenen Jahrzehnten nicht mit ihnen in Verbindung gekommen sein. Und auch die Themenvielfalt ist gigantisch: Dass das vorliegende Heft das bereits 354. in der Reihe ist, verdeutlicht dies allzu klar.

Hinzu kommt stets eine beeindruckende Materialfülle. Dies gilt zweifellos auch für die vorliegende Ausgabe. Auf 75 eng bedruckten Seiten werden von einem Team namhafter deutscher Sozialwissenschaftler*innen unzählige Statistiken, Definitionen und Auffassungen zur sozialen Ungleichheit präsentiert, die kaum einen Aspekt unbehandelt lassen. Theorien und historische Dimensionen von Ungleichheit werden ebenso dargestellt, wie die schon fast sprichwörtliche Undurchlässigkeit des bundesdeutschen Bildungssystems, die Ausmaße der Einkommens- und Vermögensungleichheit hierzulande, die deutlich geringeren Aufstiegschancen von Mädchen oder Migrant*innen oder auch die teils dramatischen sozialen und gesundheitlichen Folgen von Armut. Die Zustandsbeschreibungen der überaus unterschiedlichen Zugriffe auf die Ressourcen der hiesigen Volkswirtschaft lassen kaum einen Wunsch offen.

Auch Schönfärberei ist die Sache der Autor*innen nicht. »Soziale Ungleichheit hat sich in Deutschland verstetigt«, heißt es gleich zu Beginn unmissverständlich. Und es wird trotz des staatspolitischen Auftrags der Bundeszentrale ausgesprochen, was die Spatzen sowieso längst von allen Dächern pfeifen: etwa, dass die »Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte … durch einen Anstieg der Ungleichheit der Einkommen und eine mehr oder minder stabile aber sehr hohe Ungleichheit der Vermögen geprägt« ist. Auch wird erwähnt, dass die Hälfte der Bevölkerung vom Vermögensaufbau »nahezu ausgeschlossen« bleibt, ebenso wie das Fehlen von Perspektive bei denjenigen am unteren Rand der Gesellschaft nicht geleugnet wird. »Die Wahrscheinlichkeit, dass in Armut lebende Menschen auch fünf Jahre später noch arm sind, ist seit den 1980er Jahren von 40 auf 70 Prozent gestiegen«, wissen die Autor*innen zu berichten.

Alles in seiner Verschiedenheit verstehen

Die Ursachen dieser Zustände bleiben derweil weitestgehend im Dunkeln. So werden in dem Kapitel über die »Struktur sozialer Ungleichheit« alle möglichen Erklärungsansätze rein summarisch dargestellt, ohne sie auf ihre jeweilige Richtigkeit oder wenigstens Kohärenz hin zu überprüfen. Klassenanalyse, Schichten- oder Milieubildungs-Modelle und rein empirische Untersuchungen zu »sozialen Lagen« stehen bunt und weitgehend beliebig nebeneinander.

Dieser Unwille zur Analyse wird geradezu zum Programm erhoben. Die eine Erklärung könne es nicht geben, sind sich die Autor*innen sicher. Und weil – hier kommt die moderne Soziologie zu sich selbst – »soziale Großgruppen wie Klassen, Schichten, Lagen und Milieus nicht unvermittelt als Abbildung von Realität begriffen werden dürfen«, solle es eher darum gehen, all die von Sozialwissenschaftler*innen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelten Modelle »in ihrer Verschiedenheit zu verstehen«. Warum ausgerechnet dieses idealistische Vorgehen »für jede Antwort auf die Frage nach der Ungleichheitsstruktur … von elementarer Bedeutung« sein soll, verlangt da schon keine Erklärung mehr. So bleibt für die Marx'sche Kritik der Politischen Ökonomie auch nur das vergiftete Lob vom »guten Ausgangspunkt« übrig.

Eine Infragestellung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln und der dazugehörigen Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft dürfen dementsprechend natürlich nicht erfolgen. Dennoch begeben sich die Autor*innen, wenn auch vorsichtig, auf die Suche nach Abmilderungen für die sich zunehmende Verstetigung der Ungleichheit – mit durchaus guten Gründen: »Die Befürchtung ist groß«, heißt es abschließend, »dass bei Menschen, denen die Anerkennung für ihre tägliche Leistung fehlt und die sich zunehmend abgehängt fühlen, die Bereitschaft schwindet, das auf einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung basierende politische System zu unterstützen«. Und das gilt es selbstverständlich zu verhindern.

Liberaler Konsens

Eine größere oder gar vollständige Einkommensgleichheit, da sind sich die Autor*innen sicher, sei allerdings weder erwünscht noch ökonomisch sinnvoll. Und auch die »Verstärkung sozialpolitischer Umverteilungsmaßnahmen«, etwa die Anhebung des Spitzensteuersatzes, eine Erhöhung des Mindestlohns oder die stärkere Besteuerung von Erbschaften, seien höchst umstritten und stünden aktuell kaum auf der politischen Agenda.

So richtet sich das Interesse vor allem auf eine Erhöhung der Chancengleichheit im Bildungssystem, dessen Funktion als »Sortiermaschine« durchaus berechtigt nachgewiesen und kritisiert wird. Zu Eigen machen sich die versammelten Soziolog*innen dabei Angela Merkels Diktum, dass Wohlstand für alle nur durch Bildung für alle erreichbar sei. Dumm nur, dass Chefärzte zwar bekanntlich besser verdienen als Altenpflegerinnen, man aber in einer Gesellschaft doch beide braucht. Und so wird zwar festgestellt, dass »der Trend zu immer höheren Bildungsabschlüssen« an der Verteilungsgerechtigkeit »wenig verändert« habe – zu Resignation aber führt dies keineswegs.

Denn, und hier wird der liberale Konsens im Heft sehr deutlich, nicht der Wunsch nach sozialer Gleichheit treibt die Autor*innen an, sondern lediglich der nach einer Erhöhung der Durchlässigkeit der Gesellschaft, um die es zunehmend schlechter bestellt ist; dies hat etwa der französische Ökonom Thomas Piketty in seiner Studie über »Das Kapital im 21. Jahrhundert« vor einigen Jahren festgestellt hat. Dass sich damit immerhin die Akzeptanz sozialer Ungleichheit erhöhen könnte, darf nach Durchsicht der Broschüre getrost als dieser zugrunde liegende Motivation angenommen werden. Eine Motivation, die Agnoli stets als »systemische Bedingung der Stabilität« angesehen hat.

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