Berg-Karabach: Keine Freudenfeste in Baku

Aserbaidschan bereitet Reintegration der Karabach-Armenier vor und spricht weiter mit deren Vertretern

  • Bernhard Clasen, Baku
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein Blick auf Khankendi / Stepanakert, die größte Stadt in Berg-Karabach, in der immer mehr armenische Flüchtlinge aus anderen Regionen Berg-Karabachs Schutz suchen.
Ein Blick auf Khankendi / Stepanakert, die größte Stadt in Berg-Karabach, in der immer mehr armenische Flüchtlinge aus anderen Regionen Berg-Karabachs Schutz suchen.

»Wie, in Baku wird nicht getanzt? Keine Feste bei diesem Sieg?« Oles, der Ukrainer, der extra seinen Freund in Baku angerufen hat, um ihm zu diesem Sieg über die Karabach-Armenier zu gratulieren, kann es nicht fassen. Er steht, wie die Mehrheit der Ukrainer, auf der Seite von Aserbaidschan, vergleicht man doch in der Ukraine Berg-Karabach mit der Krim. Doch entgegen der Erwartungen der ukrainischen Freunde von Aserbaidschan feiert man in Aserbaidschan den Sieg über Berg-Karabach nicht: keine Fahnen, keine Tänze, kein Jubel. Nur an einem Ort sieht man aserbaidschanische Fahnen: auf der Chaussee vom Flughafen in die Innenstadt. Und über diese Straße muss jeder fahren, der nach Aserbaidschan will, ist doch der Landweg seit der Covid-Pandemie geschlossen. An dieser mehrspurigen Stadtautobahn hängen fast an allen Balkonen aserbaidschanische Fahnen. Alle sehen gleich aus und sind an genau derselben Stelle auf dem Balkon angebracht. Spontane Begeisterung sieht anders aus.

Im Internet ist das Video eines Autokorsos zu finden, bei dem Dutzende Autos mit russischen, türkischen und aserbaidschanischen Fahnen durch die Stadt rasen. Die Bilder erzählen vom Sieg, doch die Stimmung ist eine andere. »Schön, dass wir gewonnen haben«, sagt der Taxifahrer. »Aber meinen Sohn hätte ich nicht zur Armee gehen lassen. Ich habe selber gekämpft, in Karabach vor 30 Jahren. Nein, mein Sohn muss das nicht haben.« Freude hört sich anders an.

Unterdessen bemüht sich das offizielle Aserbaidschan, seinen militärischen Sieg zu festigen – mittels einer raschen »Reintegration« der in Berg-Karabach lebenden Armenier und fortgesetzten Verhandlungen mit Vertretern der armenischen Bevölkerung von Berg Karabach.

So berichtet der armenische Telegram-Kanal Bagramyan26 von neuen Gesprächen Ende vergangener Woche zwischen den Karabach-Armenier und aserbaidschanischen Vertretern. Dabei ging es unter anderem um einen Rückzug der Truppen, die Rückkehr von Menschen, die ihre Häuser verlassen haben. Außerdem hätten sich am Freitag der Präsident von Karabach, Samwel Schachramanjan, und der Chef der aserbaidschanischen Staatssicherheit Ali Nagiew in Schuscha / Schuschi zu Gesprächen getroffen. Auf der Grundlage der Verhandlungen vom 20. September in Jewlach habe man außerdem mit der Suche von Vermissten begonnen, Transporte von Verletzten unter Begleitung des Internationalen Rotenkreuzes nach Armenien zu organisieren, so Bagramyan26.

Nur zwei Tage nach dem militärischen Sieg wurde in Aserbaidschan eine Regierungskommission zur Reintegration von Karabach gegründet. Und immer wieder sprechen aserbaidschanische Offizielle von einem baldigen Friedensvertrag. Ein Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan, so Hikmet Hadschijew, außenpolitischer Berater des aserbaidschanischen Präsidenten, sei zu 70 Prozent fertig, zitiert der aserbaidschanische Telegram-Kanal haqqin.az Hadschijew.

Doch nicht nur auf armenischer Seite herrscht Skepsis gegenüber den aserbaidschanischen Plänen einer raschen Reintegration der Karabach-Armenier. Der Hauptgrund, warum dies nicht funktionieren könne, analysiert der aserbaidschanische Journalist Schahin Rsajew auf jam-news.net, sei das abgrundtiefe Misstrauen der Armenier gegenüber den Aserbaidschanern. Auch die Aussicht, dass ausgerechnet russische Truppen für Stabilität sorgen sollen, sei beunruhigend, hieße dies doch, dass man die 2025 endende Präsenz der Russen wohl verlängern müsste. Hinzu komme, dass wohl kein Armenier auf seine armenische Staatsbürgerschaft zugunsten der aserbaidschanischen verzichten wolle. Und überhaupt, fragt sich Rsajew, wie will man nun armenische Kinder unterrichten? Mit armenischen Schulbüchern? Das würden die aserbaidschanischen Behörden nicht zulassen, glaubt Rsajaew. Gleichzeitig sei ein Unterricht mit aserbaidschanischem Material wegen der Sprachbarriere nicht möglich. Und aus russischen Schulbüchern wolle wohl auch niemand lernen. Geklärt werden müsse auch die Frage, so Rsajew, in welcher Form junge armenische Männer ihren Wehrdienst ableisten müssten.

Angesichts der Aufregung in russischen und aserbaidschanischen Medien über die Verletzung eines aserbaidschanischen Soldaten fragt sich die in Jerewan lebende Karine Minasjan, Lehrerin für Englisch und Russisch, gegenüber »nd«, warum dieser die Aufmerksamkeit der Medien genieße. »Aber dass hunderte von Bewohnern von Berg-Karabach tot, verletzt oder verschollen sind, ist anscheinend normal« empört sie sich. Sie fürchtet, dass Karabach-Armenier in Aserbaidschan Bürger zweiter Klasse werden könnten.

Für Eldar Sejnalow, Direktor des in Baku ansässigen aserbaidschanischen Menschenrechtszentrums, ist nicht klar, wie die von Aserbaidschan angekündigte Amnestie funktionieren soll. »Der korrekte Weg wäre doch, dass das aserbaidschanische Parlament ein Gesetz zur Amnestie verabschiedet. Derzeit ist überhaupt nicht klar, wie die Amnestie umgesetzt werden soll«, so Sejnalow gegenüber »nd«. Datenschutz ist da jedenfalls kein Thema. Sejnalow fürchtet, dass es bei der Amnestie ähnlich ablaufen wird wie bei Wahlen. »Bei allen Wahlen gibt es öffentlich einsehbare Wählerlisten. Das heißt, ich kann sehen, wo in meinem Bezirk beispielsweise ein Bürger mit armenischem Namen lebt. Und so wird es auch mit der Amnestie sein. Es wird sicherlich nicht schwer sein, herauszufinden, wem Amnestie gewährt wurde. Und so müssen die Amnestierten mit Racheakten rechnen. Die Regierung muss bereits jetzt darüber nachdenken, wie sie Amnestierte vor eben solchen Racheakten schützen will.«

Unterdessen berichtet die Kinderärztin Ira (Name geändert) aus Khankendi / Stepanakert dem »nd« per Messengerdienst von Stromausfällen. »Hier in der Stadt geht die Angst um«, sagt sie. »In unserem Krankenhaus liegen acht verletzte Kinder, zwei davon sind in einem sehr kritischen Zustand«, sagt sie. Wie viele Kinder insgesamt verletzt sind, weiß sie nicht, sie könne nur von den Kindern sprechen, die in ihrem Krankenhaus behandelt werden.

Auch sie habe gehört, dass die Aserbaidschaner Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff geliefert hätten. »Bei mir ist allerdings davon noch nichts angekommen«, sagt sie. Gleichwohl fühlt sie sich noch in einer privilegierten Position. »Hier im Krankenhaus gibt es immer Strom und Internet – über einen Dieselgenerator.« Jede zweite Nacht schlafe sie an ihrer Arbeitsstelle. Die Aserbaidschaner seien nicht in die Stadt eingedrungen, berichtet sie. Aber viele Menschen, die am Rand der Stadt leben, seien nun ins Zentrum gegangen – aus Angst, aserbaidschanische Soldaten könnten in ihre Häuser kommen.

Doch schon bahnt sich ein neuer Konflikt an. Aserbaidschan fordert einen Korridor, also eine exterritoriale Landverbindung, von der Enklave Nachitschewan, entlang der armenisch-iranischen Grenze, in das Mutterland. Das dürfte dem Nachbarn Iran, der mit dem Nato-Staat Türkei verfeindet ist, nicht gefallen. Am heutigen Montag treffen sich Recep Tayyip Erdoğan und Ilham Alijew in Nachitschewan. Der Korridor dürfte auch auf der Tagesordnung stehen.

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