Leben auf der Konfliktlinie

Im Süden Armeniens sorgt ein geplanter Korridor zwischen Aserbaidschan und der Exklave Nachitschewan für Streit

  • André Widmer, Meghri
  • Lesedauer: 7 Min.
Der stillgelegte Bahnhof Meghri in Armenien lag zu Sowjetzeiten an der Bahnstrecke, die Baku mit der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan verband. Die Trasse soll jetzt erneuert werden.
Der stillgelegte Bahnhof Meghri in Armenien lag zu Sowjetzeiten an der Bahnstrecke, die Baku mit der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan verband. Die Trasse soll jetzt erneuert werden.

Nur einen Steinwurf vom Checkpoint der russischen Grenztruppen entfernt und in der Nähe der Straße hat es sich der 80-jährige Kamo Zarojan auf seinem Grundstück gemütlich gemacht. In seinem Haus im armenischen Meghri ist es zu heiß in diesen Spätsommernächten, und so hat er sich einen Schlafplatz draußen eingerichtet. Den Fernseher hat der rüstige Mann an den Baum gehängt. Zarojans kleines Stück Land befindet sich in exklusiver Lage: auf einer kleinen Anhöhe, direkt an der Grenze Armeniens zum Iran. Auf seinem Grundstück wächst dank des günstigen Mikroklimas alles, was das Herz begehrt: Feigen, Granatäpfel, Quitten. Die Aussicht auf die kahlen Berge und das grüne Tal mit dem Grenzfluss Aras (armenisch: Arals) ist atemberaubend. Doch die Freude am eigenen Reich ist etwas getrübt bei Zarojan: »Dieser Lärm«, beschwert er sich, »ich habe genug.« Denn vor seinem Grundstück kommt es immer wieder zu Diskussionen, weil die armenischen Bewohner ihre Pässe am russischen Kontrollposten zeigen müssen, wenn sie in ihre Dörfer wollen.

Russland ist wie Armenien Teil des Militärbündnisses OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) ehemaliger Sowjetstaaten und hat Truppen in der Südkaukasus-Republik stationiert. Der armenische Grenzschutz wird schon seit 1992 von Russland unterstützt. Die Kleinstadt Meghri mit ihren dazugehörenden Dörfern liegt ganz im Süden Armeniens in der Provinz Sjunik an der Grenze zum Iran und ist auch eingeklemmt zwischen Aserbaidschan und dessen Exklave Nachitschewan. Letztes Jahr haben die Russen plötzlich neue Checkpoints errichtet, so auch vor Kamo Zarojans Grundstück. Meghri ist von geostrategischer Wichtigkeit: Nach dem Krieg um Berg-Karabach 2020 und dem Sieg Aserbaidschans über die armenischen Streitkräfte ist die Region in den Blickpunkt der geopolitischen Interessen gerückt.

Im von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan ist nämlich nicht nur eine Straßenverbindung durch den Latschin-Korridor für die Armenier in Berg-Karabach nach Armenien vereinbart worden, sondern auch eine Verkehrsverbindung von Aserbaidschan in die Exklave Nachitschewan – durch den äußersten Süden Armeniens. Festgehalten ist, dass die Verbindung durch den russischen Grenzdienst des Geheimdienstes FSB kontrolliert werden soll. Doch diese Verbindung funktioniert drei Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens immer noch nicht. Der Streitpunkt: Aserbaidschan will einen Korridor – ein offizieller Vertreter aus dem aserbaidschanischen Nachitschewan sprach von einem exterritorialen Status. Das hieße, Armenien hätte kein Recht, auf einer Straße durch das eigene Territorium Kontrollen durchzuführen

Wie Bagrat Zakarjan, der Bürgermeister Meghris, schon letztes Jahr bestätigte, soll dieser Korridor fünf bis sechs Kilometer breit werden und offenbar einen Straßen- und Schienenweg umfassen. Erst im Juni sprachen sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein aserbaidschanischer Amtskollege Ilham Alijew für eine baldige Eröffnung dieser Verbindung aus, des sogenannten Sangesur-Korridors. Von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku könnte dann eine Verbindung nach Nachitschewan und weiter in die Türkei führen. Der Iran wäre von der Handelsroute mit Armenien praktisch abgeschnitten.

Auf aserbaidschanischer Seite ist seit Kriegsende 2020 ein großer Teil der Bahninfrastruktur dafür bereits gebaut worden. Die Armenier befürworten lediglich eine Verbindung, die unter ihrer Kontrolle ist. In der Region Meghri sind noch Überbleibsel der alten Bahnverbindung von Alat (Baku, Aserbaidschan) nach Dschulfa (Nachitschewan, Aserbaidschan) aus der Sowjetzeit gut erkennbar: Der alte Bahnhof Meghri mit Relikten wie einer alten Rangierlok steht noch, entlang der Grenze gibt es noch Tunnel und Galerien. Und so liegt Kamo Zarojans mit seinen eigenen Händen geschaffener Paradiesgarten direkt auf der Konfliktlinie.

Das Zentrum von Meghri ist klein, aber belebt. Ein Gemüsestand an der Ecke, eine Apotheke, die Stadtverwaltung, Banken und Geschäfte. Die Leute machen ihre Einkäufe, alte Mercedes und Ladas prägen das Straßenbild. Drei ältere Männer, die ihren Namen nicht nennen wollen, sitzen im Park. »Wir werden von den Türken lebendig gegessen«, sagen sie, auf den von Aserbaidschan propagierten Korridor angesprochen (in Armenien setzt man Türken und Aserbaidschaner meist gleich, die Sprachen sind nahe verwandt). Den Grenzverkehr mit dem Iran möchte man in Meghri nicht missen. »Weil man dort günstig einkaufen kann«, so die Männer im Park. Alles sei zuletzt teuer geworden. Menschen aus der Region kaufen deshalb im Iran ein, und auch lokale Geschäfte in Meghri verkaufen iranische Produkte, zum Beispiel Waschmittel oder Teigwaren.

Es ist aber nicht nur der kleine Grenzverkehr, der hier wichtig ist. Vom bei Meghri liegenden Grenzübergang Agarak ist der deutlich größere iranische Grenzterminal Norduz zu sehen. Der Süden Armeniens ist wichtig für die iranische Exportwirtschaft. Letztes Jahr hat der Iran rund 70 Kilometer nördlich von Meghri, in der armenischen Stadt Kaplan, ein Konsulat eröffnet. Mehdi Sobhani, iranischer Botschafter in Jerewan, begründet dies mit den vielfältigen bilateralen Beziehungen zwischen den Nachbarländern. Der Personen- und insbesondere der Güterverkehr von und nach Iran in der Region ist beträchtlich. Nicht nur rund 100 000 iranische Touristinnen und Touristen hätten Armenien innerhalb eines Jahres besucht, erläutert er, auch das Handelsvolumen mit Armenien sei letztes Jahr um 200 Millionen Dollar gestiegen. Die Straße nordwärts ist wichtig, weil iranische Güter via Armenien nach Georgien und an die dortigen Schwarzmeerhäfen wie Poti transportiert werden.

Der Iran hat also ein reges Interesse daran, dass die Fernstraße durch die armenische Südprovinz Sjunik offen bleibt. Zu einem möglichen Korridor von Aserbaidschan nach Nachitschewan durch Armenien hat der iranische Botschafter eine klare Meinung: Ein Korridor mit exterritorialem Charakter durch Armenien komme für den Iran nicht infrage; man sei gegen jegliche Grenzverschiebungen im Süden Armeniens. Als wichtige Kraft in der Region will der Iran helfen, dass Armenien und Aserbaidschan ihren Konflikt beilegen, betont der Botschafter. »Wir wollen gute Beziehungen mit unseren Nachbarn. Wir denken, dass dies zum Vorteil Irans ist und zum Vorteil aller Länder und der Menschen in der Region«, so der Botschafter. Uneigennützig ist das Engagement nicht. Schließlich gibt es bereits eine Route von Aserbaidschan durch den Iran nach Nachitschewan und weiter in die Türkei.

Etwas nördlich von Meghri legt der 34-jährige iranische Lastwagenfahrer Mohammad Davar eine kurze Rast ein. Sein über 2300 Kilometer langer Weg führt ihn und seine Fracht von Bandar Abbas am Persischen Golf innerhalb von vier Tagen nach Jerewan, zweimal im Monat fährt er die Strecke. Er kennt die verzwickte Lage in der Region. Vor dem Krieg um Berg-Karabach gab es eine direktere Verbindung von Meghri nordwärts Richtung Goris. Doch weil diese an einigen Stellen und nur wenige Kilometer über einst armenisch besetztes, aserbaidschanisches Territorium führt, richtete Aserbaidschan nach dem Krieg zuerst Checkpoints, dann Grenzübergänge ein. Zwischen armenischen und aserbaidschanischen Posten positionierten sich die Russen, um die Gegner zu kontrollieren. Umgerechnet etwa 100 Euro Gebühren verlangten die Aserbaidschaner von den iranischen Truckern für die Durchfahrt, auch auf dem Weg zurück, erklärt Davar. Diese Strecke wird nun von den Iranern nicht mehr genutzt. Jetzt müssen die Fernfahrer auf eine mit etlichen Spitzkehren versehene Straße über den 2536 Meter hohen Meghri-Pass ausweichen. In den Kurven gebe es keinen Asphalt, schildert Davar. Von der aserbaidschanischen Verbindung im Süden Armeniens hält er nicht viel. »Der Korridor wäre nicht gut«, meint er.

Und Kamo Zarojan sitzt auf seinem Grundstück quasi in der Zange: an der Grenze zum Iran gelegen, einige Kilometer von Aserbaidschan im Osten und einige Kilometer von dessen Exklave im Westen. Von den russischen Grenztruppen in der Region fühlt er sich nicht geschützt vor den Aserbaidschanern. »Die würden sie, ohne einen Schuss abzugeben, machen lassen«, befürchtet er. Europa und die USA würden nur reden, ohne aktiv zu werden. Verlassen könne man sich auf niemanden, nur auf sich selber. Aber für Kamo Zarojan ist klar: »Ich gebe das hier nicht auf.«

Schüsse in Berg-Karabach

Im Krieg um die ethnisch-armenisch bewohnte Region Berg-Karabach hat Aserbaidschan 2020 einen großen Teil der besetzten Gebiete zurückerobert, die es in den 1990er-Jahren an die ethnischen Armenier verloren hatte. Rund 7000 Menschen verloren beim 44-tägigen Waffengang vor drei Jahren ihr Leben. Beim Waffenstillstandsabkommen vom 9. Dezember 2020 wurde der Stationierung von russischen Friedenstruppen zugestimmt, die das unter der Selbstverwaltung der Karabach-Armenier verbliebene Restgebiet schützen sollten. Nach mehreren Monaten, in denen der im Abkommen vereinbarte Straßenverkehr von Armenien nach Berg-Karabach von Aserbaidschan stark eingeschränkt wurde, kam es Berichten zufolge zu Lebensmittel- und Medikamentenknappheit. Am Montag vergangener Woche nun griff Aserbaidschan Berg-Karabach erneut an – die russischen Friedenstruppen wurden von Aserbaidschan vorinformiert und griffen nicht ein. Nach 24 Stunden mit starkem Artilleriebeschuss und dem Vorrücken aserbaidschanischer Truppen kam es zu einem Waffenstillstand. Der Ombudsmann Berg-Karabachs sprach von über 200 Toten und 400 Verletzten infolge der Kampfhandlungen. Seitdem sind Tausende Menschen auf der Flucht. Aserbaidschan fordert jetzt die Entwaffnung der verbliebenen Kampfeinheiten der selbsternannten Republik Arzach (Berg-Karabach). Bei Verhandlungen zwischen Vertretern der Armenier Berg-Karabachs und Aserbaidschans in der Stadt Yevlakh (Aserbaidschan) am Donnerstag haben die Aserbaidschaner gemäß der Nachrichtenagentur Trend Pläne für eine Reintegration der Region präsentiert. Nächsten Monat soll ein erneutes Treffen stattfinden. André Widmer

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