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Wiedervereinigtes Deutschland: Kein Land für alle
Die Perspektive von Migranten kommt in den Debatten rund um den Nationalfeiertag kaum vor
Ihre Stimmen werden lauter und werden auch im deutschen Kulturbetrieb immer stärker wahrgenommen: Menschen, deren Eltern einst als Geflüchtete oder Migranten in die Bundesrepublik kamen, schildern die – oft ziemlich leidvollen – Erfahrungen ihrer Familien in diesem 1990 größer gewordenen Deutschland eindrücklich in Romanen und Essays. Und doch kommen sie in den Debatten rund um den deutschen Nationalfeiertag nach wie vor wenig vor.
Der vergangene Woche veröffentlichte Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung »zum Stand der Deutschen Einheit« kreist einmal mehr um das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland. Um Differenzen im Lohn- und Rentenniveau, um Repräsentanz in Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Die Einheit sei »vollendet«, aber »nicht vollkommen«, postulierte der Beauftragte Carsten Schneider (SPD).
Abgesehen davon, dass das auch mit Blick auf die Situation der Ostdeutschen eine Aussage ist, die sich leicht widerlegen lässt: Für die Menschen mit Migrationsgeschichte gilt sie erst recht nicht. Zumindest jene unter ihnen, die vom Aussehen her nicht als europäisch wahrgenommen werden, erleben häufig massive Diskriminierung – nicht nur durch Beleidigungen und Angriffe, sondern auch bei der Job- und Wohnungssuche. In der Politik sind sie noch weitaus stärker unterrepräsentiert als Ostdeutsche.
Mittlerweile haben fast 29 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund. In den Ballungsräumen ist ihr Anteil noch wesentlich höher. Zum Vergleich: Der Anteil der in Ostdeutschland Geborenen liegt bei 20 Prozent. Knapp zwei Drittel der laut Statistischem Bundesamt 2022 in der Bundesrepublik lebenden Personen mit Migrationshintergrund waren selbst zugewandert. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen, 12,2 Millionen, haben die deutsche Staatsbürgerschaft.
Von den »restlichen« 11,6 Millionen Zuwanderern und Geflüchteten haben viele keinerlei Möglichkeit, sich politisch einzubringen. Sie dürfen nicht einmal an Kommunalwahlen teilnehmen, geschweige denn an Bundestags- und Landtagswahlen. Und der Vorschlag im Programm der SPD zur Landtagswahl in Hessen, Menschen aus Nicht-EU-Ländern, die einen unbefristeten Aufenthaltstitel haben und seit sechs Jahren in dem Bundesland leben, wenigstens das Recht zur Teilnahme an Kommunalwahlen zu geben, rief kürzlich einen regelrechten Shitstorm von CDU-, CSU- und AfD-Anhängern hervor.
Die 3,8 Millionen in Deutschland lebenden erwachsenen EU-Bürger haben immerhin das Recht, ihre Stadtverordneten oder Gemeindevertreter zu wählen und sich auch selbst zur Wahl zu stellen. Auch an Europawahlen dürfen sie teilnehmen. Gar nicht wählen dürfen Personen aus Nicht-EU-Ländern ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Dies betraf nach Angaben des Bundesinnenministeriums im Juli 2021 gut fünf Millionen Erwachsene. Die Initiative »Nicht ohne uns 14 Prozent« setzt sich seit 2017 dafür ein, dass auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft das volle Wahlrecht bekommen, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.
Aber das fehlende Wahlrecht dürfte für viele Geflüchtete und Migranten das geringste Problem sein. Sie können sich nicht in gleichem Maße vor Gewalt geschützt fühlen wie hellhäutige Menschen. Sie müssen auch Attacken von Personen fürchten, die sich als »echte Deutsche« sehen.
Und die »Vereinigung« 1990 war für Migranten und Geflüchtete in Ost wie West eine Zäsur – und zwar eine vielfach noch existenziellere als für Millionen Ostdeutsche. Im Westen gab es auch für lange dort lebende Zugewanderte plötzlich massive Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Und für Zehntausende sogenannte Vertragsarbeiter der DDR gab es plötzlich keinen Vertragspartner mehr. Viele mussten zurück in ihre Herkunftsländer. Diejenigen, die bleiben wollten, sahen sich in Rostock, Hoyerswerda und an vielen anderen Orten plötzlich einem gewalttätigen Mob ausgeliefert, den die Polizei nicht in den Griff bekam. Ihre traumatischen Erfahrungen werden erst seit kurzem auch in der deutschen Öffentlichkeit thematisiert und aufgearbeitet.
Für Migranten war nicht nur die heute »Baseballschlägerjahre« genannte Zeit lebensbedrohlich. Vielmehr ging die rassistische Gewalt weiter, ignoriert von Polizei und Staatsschutz. Der NSU enttarnte sich selbst, statt aufgespürt zu werden. Das Muster des Augen-Verschließens gegenüber Neonazis, während man unter Angehörigen von Opfern und Überlebenden Verdächtige suchte, zeigte sich lange vorher. So wurde nach dem Brandanschlag von Lübeck im Januar 1996 jahrelang gegen einen Bewohner des attackierten Hauses, einen jungen Libanesen, ermittelt und prozessiert. Die jungen Neonazis aus dem mecklenburgischen Grevesmühlen, die sich mit der Tat gebrüstet und sie gestanden hatten, wurden nie für den zehnfachen Mord und 38-fachen versuchten Mord belangt.
Gleichwohl wächst das Selbstbewusstsein von Menschen mit Migrationsgeschichte, ebenso die Zahl derer unter ihnen, die in Politik, Wissenschaft und Kultur ihre Stimme erheben. Exemplarisch für diese Entwicklung steht ein kürzlich im Magazin »Focus« veröffentlichter Essay der Migrationsforscherin Naika Foroutan. Viele Deutsche sagten, sie würden »ihr eigenes Land« nicht mehr erkennen, schrieb sie. Die Bundesrepublik aber, so Foroutan, sei »das Land seiner Einwohner und Einwohnerinnen«. Es gehöre »niemandem per se, nur weil er oder sie Urahnen hatte, die schon immer hier gelebt haben«.
Ob Stimmen wie diese die Mehrheitsgesellschaft zum Nachdenken bringen, bleibt abzuwarten. In der derzeitigen aufgeheizten Debatte um angeblich mehr als 300 000 ausreisepflichtige Ausländer, die angeblich wegen des deutschen Sozialstaats gekommen sind, deutet wenig darauf hin.
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