Kricket-WM in Indien: Spiele der Mächtigen

Kricket ist das einzige Vermächtnis der Kolonialzeit, das in Indien geliebt wird. Am Donnerstag beginnt die Weltmeisterschaft

  • Ronny Blaschke, Kolkata
  • Lesedauer: 8 Min.

Enge Straßen mit dichtem Verkehr prägen das zentrale Geschäftsviertel von Kolkata. Dröhnende Hupen, überfüllte Bürgersteige. Der drittgrößte Ballungsraum Indiens dürfte bald 20 Millionen Einwohner zählen. Die Mischung aus Staub, Smog und Benzingeruch macht das Atmen schwer. Doch wenige hundert Meter weiter, auf dem Maidan, ist die Hektik der Megacity weit weg.

Mit seinen vier Quadratkilometern gilt der Maidan als der größte öffentliche Park Indiens. Die Rasenflächen, die durch das starke Sonnenlicht verbrannt sind, füllen sich am Nachmittag. Kinder, Jugendliche und Erwachsene stecken sich mit Jacken und Rucksäcken Spielfelder für Kricket ab. Dutzende Spiele finden zeitgleich statt. Jugendligen, Familienfeste, Turniere von Betriebsmannschaften. »Der Maidan ist das Zentrum für unsere größte Leidenschaft«, sagt der frühere Profispieler Ambar Roy, der inzwischen eine Jugendauswahl trainiert. »Wir verehren Kricket. Man kommt an diesem Spiel nicht vorbei.«

Ambar Roy sitzt mit durchgedrücktem Rücken auf einem Gartenstuhl und zieht seine Mütze ins Gesicht. Seine Spieler klopfen sich den Staub von ihren langen Hosen und schwärmen aufs Feld aus. Die meisten von ihnen sind auf dem Land aufgewachsen und wurden von Talentscouts entdeckt. Hier in Kolkata, früher Kalkutta, hoffen sie auf den Durchbruch und eine lukrative Profikarriere. »Rund um Kricket ist eine Milliardenindustrie entstanden«, sagt Ambar Roy. »Wer sind denn die Berühmtheiten in unserem Land? – Filmstars, Politiker und Kricketspieler.« Roy möchte die Hoffnung seiner Spieler lebendig halten, aber er sagt ihnen auch, dass es wohl nur wenige an die Spitze schaffen.

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In einer Pause sitzen die Jugendspieler zusammen und schauen auf ihren Handys die Videos der Profiliga. Ihre Vorfreude ist groß, denn am 5. Oktober beginnt die Kricket-Weltmeisterschaft. Indien trägt das Turnier, das 1975 Premiere hatte, zum ersten Mal alleine aus. »Seit Monaten fiebern alle auf dieses Ereignis hin«, sagt Ambar Roy. »Wir erhoffen uns einen großen Schub.« Fünf WM-Spiele sollen im Osten von Indien in Kolkata stattfinden, in einem der zehn Austragungsorte.

Von den holprigen Spielfeldern auf dem Maidan sind es zehn Gehminuten bis zum nördlichen Rand des Parks. Hier liegt Eden Gardens, das drittgrößte Kricketstadion der Welt, das 66 000 Zuschauer fasst. Die Fassade ist mit Malereien verziert. Darauf zu sehen sind Fans, die ehrfürchtig zu ihren Sporthelden aufschauen. In den Katakomben hängen versiegelte Trikots, gold-gerahmte Fotos und Tafeln historischer Ereignisse. Auf der Fläche von Eden Gardens wurde bereits in den 1860er Jahren Kricket gespielt, ein Import der britischen Kolonialzeit. Seither wurde das Gelände erweitert und umgebaut, vergrößert und renoviert. Und mit jedem Jahrzehnt wuchs die Bedeutung des Stadions. Die WM ist nun das nächste Kapitel.

Der Kricketfunktionär Snehasish Ganguly hat seine ersten Spiele in Eden Gardens als Schüler in den frühen Achtzigerjahren erlebt. Damals, erzählt er, standen die Leute stundenlang für Tickets in der Schlange. Spiele dauerten fast den ganzen Tag. »Wir haben Frühstück, Mittagessen und Nachmittagssnack im Stadion gegessen.«

In den Katakomben von Eden Gardens hat Snehasish Ganguly ein großes Büro. An den Wänden hängen Gemälde mit Kricket-Motiven. Ganguly sitzt im weißen Hemd hinter einem massiven Schreibtisch. Er ist ehrenamtlicher Präsident des Kricketverbandes von Westbengalen, jenes Bundesstaates, in dem Kolkata die Hauptstadt ist. Im Hauptberuf leitet er ein millionenschweres Verpackungsunternehmen. Funktionäre wie Snehasish Ganguly machen deutlich, wie sehr Kricket in Indien mit der Wirtschaft verbunden ist. »Uns steht eine gute Summe Geld zur Verfügung«, sagt er und lächelt. »Eine sehr gute Summe.«

Snehasish Ganguly spricht von der Indian Premier League IPL, der wichtigsten Kricketliga der Welt, gegründet 2008. Alleine der Verkauf der Medienrechte sichert der IPL und ihren zehn Klubs in den kommenden fünf Jahren 6,4 Milliarden Dollar. Eine Unternehmensgruppe bezahlte knapp eine Milliarde Dollar, um im nordindischen Lucknow ein neues »Franchise« gründen zu dürfen. Zu den größten Liga-Sponsoren zählen ein Stahlunternehmen, eine Finanz-App, ein Anbieter für Online-Fortbildungen. Und aus dem Ausland drängen Staatskonzerne aus den Golfstaaten auf den indischen Kricketmarkt. In Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait und Katar leben zusammen mehr als zehn Millionen Arbeitsmigranten aus Indien.

In jedem Fall hat sich die Indian Premier League zu einer der lukrativen Sportindustrien der Welt entwickelt: Die nordamerikanische National Football League NFL verzeichnete zuletzt einen Jahresumsatz von 18 Milliarden US-Dollar. Auf Platz zwei liegt bereits die IPL mit 10,9 Milliarden. Erst auf Rang fünf folgt die erste europäische Fußballliga, die englische Premier League, mit einem Umsatz von 5,3 Milliarden Dollar.

»Für unsere Unternehmen ist Kricket die perfekte Bühne, um Reichweite zu erzielen«, sagt der Unternehmer Snehasish Ganguly. Früher waren es Romane und Bollywood-Filme, in denen Kricket eine Rolle spielte. Heute gibt es in Stadien Shows mit Lichtdrohnen und Tanzchoreografien, ideal für die Verbreitung in sozialen Medien. Bereits 2010 war die IPL die erste Sportliga, die auf Youtube übertragen wurde, auch mit Ausrichtung auf die 32 Millionen Menschen indischer Herkunft, die nicht in Indien leben. Das Besondere an der IPL ist zudem, dass sie im Frühjahr nur knapp zwei Monate dauert, mit gerade mal 74 Spielen. Die Klubs ersteigern jährlich in Auktionen die besten Spieler aus aller Welt, zum Teil für Millionenbeträge.

Mit dem wirtschaftlichen Erfolg wächst auch die politische Bedeutung von Kricket, wie ein Beispiel aus dem März deutlich macht: In Ahmedabad, im Westen des Landes, empfing das indische Nationalteam in einem Testspiel Australien. Vor der Partie fuhr ein Wagen mit einem Podest um das Feld herum. Darauf standen Australiens Premierminister Anthony Albanese und Indiens Premierminister Narendra Modi, sie winkten ins Publikum. Auf dem Wagen stand eine Botschaft: »Freundschaft durch Kricket«. Beide Regierungen vereinbarten eine engere Zusammenarbeit.

Das Stadion von Ahmedabad ist mit 132 000 Plätzen das größte Kricketstadion der Welt und trägt seit 2021 den Namen von Narendra Modi. Die Arena liegt im Bundesstaat Gujarat, wo Modi bis 2014 Regierungschef war. 2002 soll Modi dort tatenlos zugesehen haben, wie mehrere Hundert Muslime bei Pogromen getötet wurden. Im politischen Klima seiner hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP haben Anfeindungen gegen Muslime zugenommen. Ausgerechnet in Ahmedabad soll nun am 14. Oktober das brisanteste WM-Spiel stattfinden, zwischen den verfeindeten Nachbarn Indien und Pakistan.

Im Kricket spiegelten sich auch die Konflikte in Indien, sagt der Historiker Kausik Bandyopadhyay, der Bücher über Politik und Sport in Indien geschrieben hat. 1947 hatte die einst größte Kolonie Großbritanniens ihre Unabhängigkeit erlangt. Der Subkontinent wurde in das mehrheitlich hinduistische Indien und in das muslimische Pakistan geteilt. Bei Flucht und Gewaltexzessen sollen mehr als eine Million Menschen ums Leben gekommen sein. Dennoch spielte die neue pakistanische Kricket-Auswahl bereits 1952 erstmals in Indien. Tausende Zuschauer erhielten ein Visum für das Land, aus dem sie einst vertrieben wurden.

Doch auf Annäherungen folgten Eskalationen. 1991, vor einer Partie zwischen Indien und Pakistan, gruben indische Nationalisten das Spielfeld in Mumbai um und erzwangen eine Verlegung. Mitunter wurden Testspiele von den Regierungen jahrelang untersagt, zum Beispiel während der indisch-pakistanischen Kriege 1965, 1971 und 1999. »Das Potenzial an Einnahmen durch Sponsoren und TV-Vermarktung ist aber so gewaltig, dass man die sportliche Rivalität lebendig halten möchte«, sagt Kausik Bandyopadhyay. In politisch schwierigen Zeiten fanden Testspiele zwischen Indien und Pakistan auf neutralem Boden statt, etwa in Toronto oder Dubai.

In jüngerer Vergangenheit war das Verhältnis der Atommächte stark angespannt. Eine der Ursachen: 2008 kostete eine Anschlagsserie pakistanischer Islamisten in Mumbai mehr als 160 Menschen das Leben. Seitdem waren pakistanische Spieler in der indischen Kricketliga nicht mehr willkommen. Und auch nun vor der WM haben die pakistanischen Spieler erst wenige Stunden vor der geplanten Abreise ihre Visa erhalten. Am Freitag musste die pakistanische Mannschaft im indischen Hyderabad ein Vorbereitungsspiel gegen Neuseeland ohne Publikum bestreiten. Offenbar ist ihre Sicherheit gefährdet.

Während der Weltmeisterschaft ist die pakistanische Mannschaft für zwei Spiele auch in Kolkata zu Gast, in der früheren Hauptstadt von Britisch-Indien. Am südlichen Rand des Maidans liegt das »Victoria Memorial«, ein weißes Gebäude mit Marmorböden, Freitreppen und Kuppel. Man kann sich gut vorstellen, wie die britischen Kolonialherren, die ab dem späten 17. Jahrhundert einen Handelsposten in Kalkutta aufgebaut hatten, in ihren weißen Hosen Kricket gespielt haben. »Im tropischen Klima wollten sich die Briten fit und gesund halten«, sagt der Forscher Kausik Bandyopadhyay. »Aber Kricket war auch ein Kontrollinstrument.«

In den Augen der Kolonialherren waren die Inder zu »verweichlicht« für den »Gentleman-Sport« Kricket. Aber für die Verwaltung des riesigen Subkontinents waren die wenigen tausend britischen Beamten und Soldaten auf die Unterstützung von indischen Söldnern angewiesen. Mit der Zeit durfte diese kleine indische Elite beim Kricket mitspielen, ein Aufstieg in der sozialen Hierarchie. Die Briten sprachen von der »Bürde des weißen Mannes«, den Rückständigen zu helfen. Auch deshalb sah der Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi die Verbreitung von Kricket später kritisch.

Mittlerweile ist Kricket vielleicht das einzige Vermächtnis der Kolonialzeit, das in Indien uneingeschränkt verehrt wird, über Grenzen der Religionen, Kasten und sozialen Milieus hinweg. Man kann sich davon in der College Street ein Bild machen, im Norden von Kolkata. Auf schmalen Bürgersteigen breiten Händler ihre Büchertische aus. In Geschäften liegen auch Zeitschriften über Kricket aus. Zum Beispiel über die Weltmeisterschaft 1983 in England, als Indien im Land der einstigen Kolonialmacht erstmals den Titel gewann. Oder über das ehrwürdige Stadion von Kolkata. Mehrfach haben Fans in Eden Gardens Feuer gelegt, weil sie nach Niederlagen wütend waren. Aber auch, weil sie nach Siegen ihre Begeisterung nicht kontrollieren konnten. Eden Gardens wird bald 160 Jahre alt. Jung genug für die nächste Weltmeisterschaft.

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