Literaturnobelpreis 2023: Zurück zur Mystik?

Der Norweger Jon Fosse erhält den Nobelpreis für Literatur 2023

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 5 Min.

Das übliche Prozedere: Jahr für Jahr fiebern die Buchhändler aller Herren Länder auf die Entscheidung eines elitären Experten-Clubs aus Stockholm hin, wer den von Dynamit-Erfinder Alfred Nobel gestifteten Preis in der Kategorie Literatur erhält: Auserwählte erwarten eine knappe Million Euro und viele Käufe seines Œuvres für zukünftige Buchgeschenke und die unberührte Regalwand mit Buchrücken.

Nun wurde 2023 Jon Fosse ausgezeichnet, der für die Schwedische Akademie aus dem Land nebenan, Norwegen, stammt. Seine Romane, Stücke, Gedichte verfasst er auf Nynorsk: Das Neunorwegische wurde aus verschiedenen Dialekten im 19. Jahrhundert zusammengeschustert, um eine Schriftsprache für Norwegen zu haben. Nynorsk verwenden nur etwa 15 Prozent; Bokmål, aus der dänischen Tradition abgeleitet, der Rest. Man kann sich Gedanken über ästhetizistische Vorlieben für urwüchsige, vorgeblich einflussfreie Sprachen machen, aber das bleibt Spekulation. Fosse ist im rauen Westen Norwegens aufgewachsen, wie Ernaux in sogenannten einfachen Verhältnissen. Lyrics für Rockmusik waren seine ersten Texte. Aufrührerisch und trotzdem still soll der Junge gewesen sein. Von einer frühen Nahtoderfahrung wird berichtet. Fosse kam als Provinzjugendlicher in die relativ große Stadt Bergen zum Studium der Literatur und wurde ungeplant mit Anfang 20 Vater. Daraufhin musste er Geld verdienen, schrieb sympathischerweise für eine Militärdienstverweigererzeitschrift. In fremden Sprachen bewandert, übersetzte er später Kafka, Thomas Bernhard und Peter Handke, Nobelpreisträger 2019, in sein Nynorsk. Von ihnen hat Fosse einiges gelernt.

Fosses Prosa besteht aus langen, sich wiederholenden Sätzen, die Wortwahl karg, bis auf die Verwendung von Symbolik, das Erzählen mäandert, schwelgt, quält sich voran – wähle dein Verb! Die Figuren sind die Verlorenen, eine tiefe Grundtraurigkeit ist atmosphärisch Pflicht. In seinen Romanen, darunter eine Trilogie (»Schlaflos«, »Olvas Träume«, »Abendmattigkeit« – gebündelt als das Buch »Trilogie« 2016 bei Rowohlt erschienen) und eine Heptalogie – der Wille zum Werk ist stark – variiert Fosse oft das Künstlerschicksal des einsamen Zweiflers, dem keine Verbindung zu Mitmensch und Mitwelt gelingt, sich selbst ins Dunkel stößt. Rimbauds Motto »Ich ist ein anderer« dient als Titel der bislang letzten Veröffentlichung, die seine Heptalogie-Romane III-V umfasst und auf Deutsch 2022 bei Rowohlt erschien. Das klingt ein bisschen nach Black Metal-Psychologie ohne Satan und Nazismusnähe. In mir schaut’s düster aus – wer macht das Licht an? Mittlerweile aber ist Fosse ein Mann des Glaubens: Erst war er vom ungläubigen Lutheraner zum Quäker geworden, inzwischen bekennt er sich zur katholischen Kirche. Dazwischen liegen viele Jahre Alkohol, wie Fosse freimütig der Presse erzählt, um über den Tag zu kommen. Die Literaturproduktion ist für ihn eine innere Angelegenheit. Recherchiert wird nicht, der Dichter wartet auf Eingebungen, liest man, er wartet ab, bis ihm was kommt, dann schreibt er los. Das »Textgebet« (Rainald Goetz) ruft nicht direkt beim Herrgott an, aber das schleppende Wieder und Wieder in getrennten Satzeinheiten klingt zuweilen biblisch.

Zurück aus der Ewigkeit: Im letzten Jahr wurde die französische Autorin Annie Ernaux prämiert. Man freute sich, weil man sie schon kannte, ihr Werk vorrätig war, aber auch, weil die Gesellschaftskritik von Ernaux’ Romanen, gewonnen aus der eigenen Biografie, fürs großes Publikum eine (Selbst-)Aufklärung über Klasse und Geschlecht fördert. Zur Selbstunterhaltung diskutierten bis Mittwochmorgen Bücherleute über mögliche Kategorien der Entscheidungsfindung: Geschlecht, Herkunftsland, ungefähre Schreibweisen der Prämierten sollen sich angeblich abwechseln.

Fosse ist in allen Gattungen aktiv. Seine Stücke werden auf internationalen Bühnen gespielt, seine Lyrik und Prosa ist in viele Sprachen übersetzt. Fosses deutscher Übersetzer ist der renommierte Hinrich Schmidt-Henkel, der u. a. für Michel Houellebecq zuständig ist, aber auch Ibsen kann, den größten Klassiker Norwegens. Literaturhistoriker bezeichnen Fosses ersten Roman »Rot, schwarz« von 1983 als Beginn der Postmoderne in der skandinavischen Literatur. In diesem Jahrzehnt wird auch Norwegen – den endlich ausgebeuteten Öl-Vorkommen auf stürmischer See sei Dank – immer reicher. Solche Aussagen sind immer mit Vorsicht zu genießen und lassen sich clever widerlegen, trotzdem findet in den nordischen Ländern zu dieser Zeit generell eine Abkehr von der gesellschaftskritischen Literatur statt: Diese war am Journalismus geschult, als ihr bekanntester Vertreter gilt der Schwede Stig Dagerman, der als ganz junger Mann exzellente Reportagen über Deutschland kurz nach dem Kriege schrieb. Große Preise gab’s dafür damals nicht.

Dass Preisverleihungen eine recht autoritätshörige Angelegenheit sind, wird wohl selten widersprochen, aber man stellt das intransparente Erkiesen der Weltliteratur selbst auch nur selten infrage. Es dient halt Geschäft und Karriere. Und auch wenn das Verdikt des experimentalliterarischen Eremiten Arno Schmidt, dem Literaturnobelpreis hafte ein »Stigma der Mittelmäßigkeit« an, zu polemisch ist, haftet doch immer die Frage nach der Gefälligkeit für gewisse höhere Instanzen an Vielprämierten und Durchstipendierten.

Ohne Fosse große künstlerische Qualitäten absprechen zu können, ist sein seelisch irgendwo erschütterndes, wohl ehrlich-existenzielles Raunen ein vom Nobelpreiskomitee klar gesetzter Kontrast zu Annie Ernaux’ Bemühungen um die Abbildung sozialer Wirklichkeit. Männlich-monomanische Selbstzerfleischung aus den Tiefen der Seele anstelle einer Romanliteratur, die einen Lebensweg versucht sachlich, mit soziologischen Mitteln, aus und in gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen: 2022 Aufklärung, 2023 Mystik. Mal schauen, wohin die Entscheidungsfindung geht.

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