Kein Halt mehr

Wendy Brown beschreibt die Phänomene unserer Zeit als einen neuen Nihilismus. Dagegen sucht sie Rat bei Max Weber, der schon vor 100 Jahren über den Sinnverlust in der Moderne schrieb

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 7 Min.
Ein »ozeanisches Gefühl« erzeuge die Auflösung aller Fundamente in der Moderne. Die entsprechende Geisteshaltung ist der Nihilismus.
Ein »ozeanisches Gefühl« erzeuge die Auflösung aller Fundamente in der Moderne. Die entsprechende Geisteshaltung ist der Nihilismus.

Unsere krisengeplagte Zeit ist bekanntlich nicht nur von materiellen, sondern auch von mentalen Widersprüchen geprägt. So erleben wir etwa eine »Hyperpolitisierung«, wie der Historiker Anton Jäger es nennt: das Eindringen (scheinbar) politischer Fragen, vor allem aber parteilicher Spaltungen, in sämtliche Bereiche des Lebens, ohne dass dem allerdings eine relevante politische Wirkungsmacht entspräche. Eng damit verwandt ist ein weitverbreiteter Moralismus, der für systemische Probleme nur individuelle Ursachen kennt und zur Lösung eher auf symbolische Beschämung als auf manifeste Veränderung setzt. Besonders perfide wird es, wenn dieser Moralismus auch noch geheuchelt ist; wenn eine Regierung sich etwa »wertegeleitete Außenpolitik« auf die Fahne schreibt, ihre ach so humanistischen Werte aber allein dann verteidigt, wenn die eigenen Interessen daran keinen Schaden nehmen.

Mit einem etwas aus der Mode gekommenen Ausdruck könnte man diese Lage als »nihilistisch« bezeichnen. Damit ist nicht gemeint, dass es keinerlei Werte mehr gäbe, sondern dass diese einer beständigen Entwertung und Umwertung unterliegen – so wie Friedrich Nietzsche es im 19. Jahrhundert für die geistigen Umwälzungsprozesse und den Bedeutungsverlust religiöser Weltanschauungen infolge der Aufklärung beschrieben hat.

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Auch Wendy Brown, US-amerikanische Politologin und Ikone der akademischen Linken, spricht neuerdings von »Nihilismus«. In ihrem letzten, 2019 nur auf Englisch erschienenen Buch »In the Ruins of Neoliberalism« diagnostizierte sie ihn im aktuellen Aufstieg antidemokratischer Politik. In ihrem neuem Buch »Nihilistische Zeiten« bettet sie diese Geisteshaltung nun in die historischen Zusammenhänge ein. Im Anschluss an einen der Begründer der Soziologie, Max Weber, versucht sie, unsere gegenwärtige Situation vor dem Hintergrund von dessen Analyse des Nihilismus im Kontext der säkularisierten Moderne zu verstehen.

Webers Antinihilismus

Brown, die der marxistisch geprägten Kritischen Theorie nahesteht, sieht für diese Unternehmung selbst einen gewissen Rechtfertigungsbedarf – gelte Weber doch heute nicht zu Unrecht als Vorreiter von Rationalismus, Positivismus und Spezialisierung der Wissenschaften, zugleich von Irrationalismus, Nationalismus wie Antimarxismus in Politik und Ökonomie. Diesem doch etwas einseitigen Bild des Soziologen stellt Brown die tiefsinnige Komplexität eines politischen Denkers gegenüber, der im Zeichen der Krise der Moderne die Verwerfungen seiner katastrophalen Zeit bekämpfen wollte, namentlich die Gefährdung der liberalen Demokratie in der prekären Epoche zwischen den Weltkriegen, die unserer heutigen Zeit in vielem erschreckend ähnlich ist.

Brown richtet ihr kritisches »Denken mit Max Weber«, wie es im Untertitel des Buchs heißt, auf die beiden berühmten Reden, die Weber 1917 und 1919 auf Einladung des Freistudentischen Bunds in München hielt: »Wissenschaft als Beruf« und »Politik als Beruf«, die einige von Webers bekanntesten Gedanken ausführen, etwa den von der modernen Wissenschaft als »Entzauberung der Welt« und von Politik als dem »langsamen Bohren von harten Brettern«.

Webers Ausgangslage beschreibt Brown so: Die Rationalisierungsprozesse der Moderne hätten die religiöse Weltdeutung entmachtet, ohne dass jedoch ihre wissenschaftlich-technischen Fortschritte ein alternatives Sinnangebot machen könnten, wodurch sie ein zunehmend nihilistisches Wertevakuum erzeugten. Eben diese »Wertfreiheit« der Wissenschaft, die einzig nach den nüchternen Tatsachen fragen sollte, unterstreiche und fordere Weber dann auch selbst eindringlich, um die Schaffung und Vermittlung neuer Werte allein der Politik zu überantworten. Daher werde in der Rede zur Politik auch Webers antinihilistisches Programm deutlicher .

»Leidenschaft und Augenmaß«

Für Weber wie Nietzsche ergibt sich der Nihilismus der Moderne aus der Transformation ihrer religiösen gesellschaftlichen Fundamente. Der Fortschrittsglaube, als säkulare Version des Heilsversprechens, wird darin mit seinem eigenen Scheitern konfrontiert, »für allgemeinen Frieden, Wohlstand, Glück oder Freiheit zu sorgen«, so Brown. Ein Zustand, der uns heute nicht weniger vertraut sein dürfte als die angesichts von Bürokratismus und Technokratie um sich greifende Sehnsucht nach der politischen Ersatzreligion der Demagogie – die dieses unerfüllte Begehren allerdings nur für ihre eigenen Zwecke missbraucht, ohne es selbst befriedigen zu können.

Diesem nihilistischen Teufelskreis setzt Weber seine Konzeption des »berufenen« Politikers entgegen: Der wisse dem Verlangen nach Demagogie zu entsprechen, aber ergänze seine charismatische Führung durch Verantwortung für die Folgen seines Tuns. Er habe ein Gespür für die Macht, aber berausche sich nicht an ihr, er handle »mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich«. In asketischer Manier stelle sich der Berufspolitiker ganz in den Dienst der Sache, die aber nicht einer abstrakten Gesinnung oder einem utopischen Ideal entspreche, sondern sich auf die konkreten Umstände beziehe. Er wolle diese Umstände revolutionieren, ohne sie gewaltsam umzustürzen. Für Brown hat Weber damit »eine nahezu unmögliche Figur konstruiert«, die er allerdings für nötig halte, um überhaupt »das Mögliche zu erreichen«.

Brown sieht Webers Konzept der verantwortlich-charismatischen Führung durchaus als Inspirationsquelle für eine politische Linke, die im Kampf gegen rechte Aufwiegler wie gegen den sogenannten Extremismus der Mitte einsehen sollte, »dass rationale Argumente und zwingende Beweise als solche nichts gegen populäre Ängste und Frustrationen, Bindungen und Sehnsüchte ausrichten können«, sondern es stattdessen darum gehen müsse, auf emotionaler Ebene »Wunsch« und »Begehren« nach einer besseren Ordnung zu entfachen und diese »in ein umsetzbares politisches Projekt einzubetten«. Offen bleibt für Brown allerdings die Frage, wie eine solche Politik des Begehrens Erfolg haben soll, ohne auch in außerpolitische Institutionen, Medien und vor allem Bildungseinrichtungen hineinzuwirken. Denn die andere Seite von Webers Projekt bestand ja darin, die Leidenschaft und Wertorientierung der Politik aus Wissenschaft und Bildung fernzuhalten.

Wissenschaftliche Verantwortungsethik

Wenn Politik der Ort sei, um neue Werte zu schaffen, werde es Aufgabe der Wissenschaft, diese Werte zu analysieren. Dieser Webersche Ansatz unterscheidet sich zwar Brown zufolge »radikal vom Auftrag heutiger Lehrkräfte, ›Ausgewogenheit‹ zwischen gegnerischen politischen Ansichten herzustellen«, soll aber dennoch »Wertekonflikte nicht lösen«, sondern allein in Tatsachenwissen überführen. Die Politologin erläutert Webers Intention, durch strenge Werthygiene die Wissenschaft vor politischer wie religiöser Vereinnahmung zu bewahren, hält dieses Ziel aber für zum Scheitern verurteilt. Der ethische Asketismus der Wissenschaft »jagt den Nihilismus also aus einer Tür hinaus und lässt ihn durch eine andere wieder herein«, weil den Akademiker*innen so überhaupt nicht klar werden kann, welchen Sinn ihre Tätigkeit eigentlich haben soll.

Brown schlägt stattdessen vor, Webers Wertenthaltung in der Wissenschaft durch eine zur Politik analoge Verantwortungsethik zu ersetzen. Besonders die Sozialwissenschaften und die politische Theorie sollten ebenso wenig an abstrakte Prinzipien gebunden werden wie die Politik, sondern müssten auch einer welthaltigen demokratischen Bildung durch bestenfalls charismatische Lehrpersonen dienen können.

Hierzu macht Brown einige, wie sie es nennt, »revolutionäre« Vorschläge, etwa die Studierenden mit existenziellen Fragen zu konfrontieren oder »mit grundlegenden Praktiken umsichtiger Staatsbürgerschaft vertraut« zu machen. Das leidenschaftliche Plädoyer gegen den akademischen und politischen Nihilismus wird jedoch hier wie auch sonst im Buch leider getrübt durch eine Weitschweifigkeit in elendig langen Schachtelsätzen, die auch die ansonsten gute Übersetzung von Christine Pries regelmäßig an ihre Grenzen bringen. Auch leidet Browns Vision unter begrifflicher Unschärfe, wenn etwa – ganz im Sinne des konservativen Weber – beständig »Revolution« mit allenfalls radikalen Reformen verwechselt wird.

Konkretionsprobleme

Und doch wäre in Browns Auseinandersetzung mehr tatsächliches »Denken mit Max Weber« über unsere Gegenwart wünschenswerter gewesen als ihr oftmals bloßes Nachdenken über Max Weber – vor allem zum Thema Politik. Denn hier unterliegt Browns Anschluss an Webers »unmögliches« Charisma-Konzept selbst dem Vorwurf des Utopischen, gegen das Weber sich ja eigentlich zu wenden versuchte, auch wenn ihm das Brown zufolge nicht wirklich gelungen ist.

Man hätte gerne etwas mehr darüber erfahren, wie sich eine links-charismatische Führung »konkret« einen Weg durch die bürokratischen Parteimühlen bahnen sollte, oder ob es nicht eher die »konkrete« außerparlamentarische Arbeit – in Gewerkschaften, NGOs und warum nicht auch Hochschulen – sein dürfte, an der sich neue charismatische Persönlichkeiten herausbilden könnten. So aber bleibt die anregend weit ausgreifende Lektüre am Ende etwas zu ungreifbar – nicht nur für Webers ganz aufs Gegenständliche zielende Vorstellung von Politik.

Wendy Brown: Nihilistische Zeiten. Denken mit Max Weber. Suhrkamp, 187 S., geb., 28 €.

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