»Als Forschende haben wir die Pflicht einzuschreiten«

Genetische Daten unterdrückter Communities werden in der Forschung unbedarft genutzt, kritisiert der Bioinformatiker Yves Moreau.

  • Interview: Isabelle Bartram und Janina Johannsen
  • Lesedauer: 7 Min.
Wissenschaftsethik – »Als Forschende haben wir die Pflicht einzuschreiten«

Was ist so schützenswert an genetischen Daten?

Das ist stark vom Kontext abhängig. Bei meiner klinischen Forschung beschäftige ich mich eher mit westlichen Belangen des Datenschutzes. Die Patient*innen und ihre Familien wollen Antworten bekommen und ihre Daten mit uns teilen. Sie möchten, dass wir die genetischen Abweichungen finden, die ihre Krankheit – oder die ihres Kindes – verursachen. Diese Informationen sind jedoch hochsensibel und können eine stigmatisierende Dimension haben, weil sie beispielsweise Aussagen über psychische Gesundheit enthalten können. Wir dürfen also die Daten nicht einfach so für die ganze Welt öffnen und Wissenschaftler*innen in die Daten eintauchen lassen. Es muss ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Bedarfen gefunden werden – die wissenschaftliche Community hat das erkannt, und der Zugang zu Gendaten ist einigermaßen gut reguliert. Das ist eine klassische, sagen wir mal, europäische Datenschutzperspektive.

Welche Perspektive gibt es noch?

Es gibt auf der ganzen Welt Bevölkerungsgruppen, die größere Bedenken haben könnten, wie genetische Daten verwendet werden, und von wem zu welchem Zweck. Hier in Europa etwa die Rom*nja. Das ist eine Community, die historisch und aktuell stigmatisiert und diskriminiert wird, und die Objekt vieler genetischer Studien ist. Forschende wollen einerseits die Migrationsgeschichte der Rom*nja verstehen. Andererseits werden Rom*nja gerne in humangenetischen Studien untersucht, da bestimmte genetische Erkrankungen in einigen Communities häufiger vorkommen als im Rest der Bevölkerung. Sie stellen also ein produktives Forschungsobjekt für Wissenschaftler*innen dar. Gleichzeitig profitiert die europäische Wissenschaft – und die westliche Wissenschaft im Allgemeinen – von der Untersuchung von Communities, die vielerorts keinen Zugang zu einer grundlegenden Gesundheitsversorgung haben. Es stellen sich also Fragen nach Gerechtigkeit.

Was wäre für Sie eine problematische Verwendung von genetischen Daten?

Als Mitglied der Humangenetik-Community habe ich die langfristige Sorge, dass ein Teil dieses Feldes daran arbeitet, Karten der menschlichen genetischen Vielfalt zu erstellen. Forschende wollen wissen, wie sich die Menschen auf der ganzen Welt und im Laufe der Geschichte genetisch unterscheiden. Ich habe mich viel mit Studien zu Uigur*innen in China beschäftigt. Hier wird zum Beispiel untersucht: Was unterscheidet diese Gruppe von den Han-Chines*innen und Populationen in Zentralasien oder Sibirien? Genetiker*innen stellen das gewonnene Wissen auf Karten dar, etwa in Bezug auf die Verbreitung erblicher Krankheiten. Ich habe das Gefühl, dass kein Bewusstsein dafür besteht, dass dies gefährlich ist, weil Karten politische Objekte sind. Wenn man anfängt, präzise Karten zu zeichnen, fängt immer irgendjemand an, Grenzen zu ziehen. Wenn wir diese Forschung wollen, müssen wir akzeptieren, dass wir eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft haben. Wenn wir beobachten, dass die Daten in einer sehr stigmatisierenden und diskriminierenden Weise instrumentalisiert werden, dann haben wir als Wissenschaftler*innen die Pflicht einzuschreiten.

Interview

Yves Moreau setzt sich seit Jahren für die Einhaltung ethischer Standards in genetischer Forschung ein. Der belgische Professor für Bioinformatik ist vor allem für seine Kritik an unethischer Forschung an unterdrückten Minderheiten in China bekannt. Mehr zu seiner Arbeit unter: yvesmoreau.net

Denken Sie, dass es Forschung gibt, die einfach nicht gemacht werden sollte?

Ich bin Wissenschaftler, für mich ist Wissen ein Selbstzweck. Aber mein Standpunkt dazu hat sich in den letzten Jahren geändert. Früher wäre ich wie die meisten Wissenschaftler*innen der Meinung gewesen, dass das Wissen an erster Stelle steht und die Gesellschaft mit den Problemen, die sich aus der Forschung ergeben, umgehen muss. Heute würde ich Ausnahmen machen, wenn ich das Gefühl habe, dass dies nicht möglich ist – etwa wenn ich mir Forschung zur genetischen Vielfalt in China anschaue. Tibeter*innen, die in 4000 Meter Höhe leben, sind physiologisch an die Höhe angepasst. Diese Anpassungen spiegeln sich auch in bestimmten Genvarianten wider. Daraus ergeben sich faszinierende Forschungsfragen aus biologischer und medizinischer Sicht. Menschen mit der entsprechenden Genvariante können Sauerstoff effizienter verstoffwechseln. Es gibt viele Krankheiten, bei denen dieses Wissen möglicherweise therapeutisch einsetzbar wäre. Das Verständnis dieser genetischen Unterschiede ist jedoch äußerst politisch in Bezug auf die Kontrolle des tibetischen Plateaus. Da es ein Korridor Chinas an der Grenze zu Indien ist, wollen die chinesischen Behörden es unbedingt kontrollieren. Sie siedeln dort Han-Chines*innen an und schicken Militär, um die Grenze zu überwachen. Doch bei einigen Menschen kommt es zu ernsthaften medizinischen Komplikationen, wenn sie längere Zeit in dieser Höhenlage verbringen. In genetischen Fachartikeln aus China findet man zum Teil sehr deutliche Aussagen dazu, wozu das generierte Wissen dienen könnte: um die Han-Siedler*innen oder die Soldat*innen anhand von genetischen Markern so auszuwählen, dass weniger von ihnen Probleme haben, in Tibet zu leben. Das Wissen über diese genetischen Marker hat also direkte politische Implikationen in der heutigen Welt. Daraus ergibt sich auch für westliche Wissenschaftler*innen die Frage, wie sehr wir innerhalb dieses Forschungsfeldes kooperieren sollten.

Warum werden ethische Richtlinien, wenn es beispielsweise um Forschung mit ethnischen Minderheiten in China geht, so oft nicht eingehalten?

Wir haben es mit einem gravierenden Systemversagen zu tun. Es ist besonders frustrierend, weil alle Wissenschaftler*innen, die zum Beispiel mit Daten von Patient*innen auf der ganzen Welt zu tun haben, dafür eine Menge bürokratischer Hürden überwinden müssen. Diese Prozesse sind sehr kompliziert und fressen eine Menge teurer Arbeitszeit. Aber wenn man sich mit Forschung zu unterdrückten chinesischen Bevölkerungsgruppen wie den Uigur*innen beschäftigt, sieht man, dass diese Prozesse systematisch versagen. Sie funktionieren also gerade dort nicht, wo sie am dringendsten benötigt werden. In Xinjiang werden Menschen Monate oder Jahre willkürlich in Lagern interniert, für Zwangsarbeit missbraucht oder verschwinden einfach. Frauen werden zwangssterilisiert und zu Abtreibungen gezwungen. Kinder wurden ihren Familien weggenommen und in Internate geschickt, damit ihre Ethnie ausgelöscht wird. Und dann stellt man fest, dass es ein ganzes Forschungsgebiet gibt, das diese Bevölkerungsgruppen sehr intensiv untersucht – teilweise in Zusammenarbeit mit westlichen Forschenden. Es geht dabei auch um Forschung mit direkter Relevanz für den Einsatz von sehr spezifischen Technologien als Instrument der sozialen Kontrolle. Wir sprechen hier nicht nur von Grundlagenforschung, um ein Verständnis von genetischer Vielfalt zu gewinnen. Wir sprechen über die Entwicklung und Validierung von Technologie für den Einsatz durch die Polizei. Rund die Hälfte der betroffenen Fachartikel haben Ko-Autor*innen, die bei der chinesischen Polizei arbeiten. Es ist also sehr überraschend, dass westliche Fachzeitschriften diese Art von Forschung veröffentlichen. Vor 2017 wurde zwar noch nicht intensiv über die Situation der Uigur*innen berichtet. Aber von der Unterdrückung der Tibeter*innen wissen Europäer*innen und US-Amerikaner*innen doch schon lange.

Wie kommt es dazu, dass solche Studien in renommierten Fachzeitschriften publiziert werden?

Es besteht insgesamt kaum Bewusstsein darüber, dass Wissenschaftsverlage große internationale Unternehmen sind, die Milliardenumsätze erzielen. Wenn man auf systemische Probleme im Verlagssystem hinweist, gibt es natürlich eine gewisse Zurückhaltung, die kommerziellen Zwecke der Unternehmen zu gefährden. Gerade in Bezug auf problematische Forschung aus China – das Land ist momentan der größte Schwellenmarkt für westliche Verlage. Also ist das Verhalten der Verlage meiner Einschätzung nach hauptsächlich profitorientiert und viele Entscheidungen, selbst wenn es um ethische Standards geht, scheinen den Geschäftsinteressen untergeordnet zu sein.

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Sehen Sie einen Wandel in der Wissenschafts-Community durch Ihr Engagement?

Wenn Artikel zurückgezogen werden ist das auch ein starkes Signal für die Wissenschaftscommunity, sowohl in der forensischen Genetik als auch innerhalb der Humangenetik. Die Beziehung zwischen diesen Teildisziplinen ist sehr interessant. Die forensische Genetik ist ein Teil der Humangenetik, der sich darauf konzentriert, wie man das humangenetische Wissen nutzt, um Personen zu identifizieren und Verbrechen aufzuklären. Die klinische Humangenetik wiederum hat ein enormes Bedürfnis nach öffentlichem Vertrauen. Ich habe den Eindruck, dass, während der Großteil der forensischen Genetik sich Kritik gegenüber verschließt, in der Humangenetik tatsächlich ein Verständnis dafür besteht, dass diese Art unethischer Praktiken eine Gefahr für das notwendige öffentliche Vertrauen in die medizinische genetische Forschung darstellt. Deshalb sind die Fachgesellschaften für Humangenetik und klinische Genetik viel eher bereit, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Es freut mich zu sehen, dass es tatsächlich Wissenschaftler*innen gibt, die trotz aller Wissensbeschränkungen – wir sind ja keine Sozialwissenschaftler*innen und in vielerlei Hinsicht sehr naiv – bereit sind, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen.

Isabelle Bartram und Janina Johannsen sind Mitarbeiterinnen des Gen-ethischen Netzwerk e.V..

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