Jon Fosse: Ja. Vielleicht. Könnte sein

Theaterstücke des Nobelpreisträgers Jon Fosse: Nähe zum Schweigen ist Trost

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Sprache hat einen sehr gegenwärtigen Feind: Kommunikation. Jene Ritzung, die das Wort auf unsere Seelenhaut zu schreiben vermag, wird schwächer und schwächer. Der Atem der Sprache, gehetzt von Schwätzern und Zurichtern. Das Sagen ist Not geworden, Not schuf Würde: das Schweigen. Mit seinen wortkargen, still sprechenden Stücken ist der Schriftsteller Jon Fosse zum berühmtesten und weltweit meistgespielten Dramatiker Norwegens geworden. Dieses Jahr bekommt er für sein Gesamtwerk den Literaturnobelpreis.

Seine Theatertextewissen viel vom Leben, vor allem, dass Welt und Vorstellung unüberwindbar auseinanderfallen. Selbst- und Fremdbild sind nicht zu vereinen, zwischen beiden Polen geschieht ein ungelenkes, zermürbendes, flehendes Spiel der Annäherung und Aufkündigung. Komische Umarmungen, trauriges Anstarren. Es würde niemanden wundern, seufzten sich Fosses Menschen in jenen berühmten Ruf aus Tschechows »Drei Schwestern« hinein: »Wenn man es nur wüsste, wenn man es nur wüsste.« Man weiß nicht. Die Hauptwörter dieser Szenerien: »Ja. Vielleicht. Könnte sein.«

Ein Mensch definiert sich nicht über das, was er nicht ist. Und doch reizt, um Fosse zu bejahen, die Negation: kein Aufklärer, kein Zertrümmerer, kein Klartextler, kein Wilder, kein Wütiger, kein Wuchtender, kein Schleierwegreißer, kein Erzieher, kein Moralist. Er ist der große Innehalter, Ohne unmittelbare politisierende Zugriffe. Ohne vordergründige Sozialbindung. Gewissermaßen ein Bruder Ibsens, obwohl just die Abkehr von dessen Sozialrealismus überhaupt erst zum Impuls für den jungen Erzähler wurde, Stücke zu schreiben.

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Dieser Dramatiker ist ein Fühlender von der Nacht- und (Alb)traumseite. Nie gesinnungsdienstlich unterwegs. Was steckt in jedem beiläufigen Aufeinandertreffen, Aneinandervorbeigehen von Menschen? Das kann Theater nicht beantworten, deshalb schreibt Fosse fürs Theater. Berührungen, Entfernungen, Atmosphäre für das höhere Nicht-Verstehen. Es ist in den Texten des 1959 Geborenen so, als drücke alles Dunkel, alles Klamme und Gefrostete des unwirtlichen Nordens auf die Sprachfähigkeit. Das besagte Schweigen gibt Worte nur frei, wenn es unter Zwang gerät. Freiheit heißt: Zurückhaltung aus Eigensinn.

»Starker Wind« zum Beispiel, »ein szenisches Gedicht«. Ein Mann, von einer langen Reise zurückgekehrt, sieht seine Frau an der Seite eines Geliebten. Sein schleppender Monolog trifft auf die Entschiedenheit der Frau (»Geh jetzt!«) und auf die lässige Modernität des Liebhabers, der eine Liaison zu dritt vorschlägt. Das ist schon alles: banal. Kein Futter für jene, die von Kunst fordern, sich ins Brüllen und Brodeln der Welt einzumischen. Kein Stoff für jene, die nur noch in Revolutionierungen der Geschlechterverhältnisse denken können – und die dabei jene einfache, schwerwiegende Archaik vergessen: In einer Partnerschaft liebt immer ein Mensch mehr als der andere. Da wir Natur sind, bleiben alle Lieben auch Erzählung von stark und schwach.

Fosse, der Bauernsohn, schreibt Sprachzeichenstücke zwischen Lebensdrang und Erstarrung. Zugänge zueinander sind betoniert. Alles ist zäh, bitterhonigzäh. Was der Mensch (noch) mitzuteilen hat, gleicht geringfügigem Rascheln am Rande des Bewusstseins. »Der Name«, »Die Nacht singt ihre Lieder«, »Traum im Herbst« oder »Winter«: Schauspiel als Galerie von versteiften Nichtssagern und verlegenen Pausenfüllern, verschämten Gefühlswegschiebern und ummauerten Lebensaushaltern. Als sei Zusammenleben ein Abgrund, der nicht ausgemessen und bewirtschaftet werden kann. Ja. Vielleicht. Könnte sein.

Eigentlich ist ihm der Roman näher und lieber als jedes Stück. Mag sein, dass seine Schauspiele deshalb das sind, was Bühnenstoffe heute kaum noch werden: Theater zum Lesen. Diese Dramatik ist auf dem Weg wahrlich ins Nichts. Dorthin, wo Samuel Beckett schon ist, aber der war agiler, spielerischer, verschwenderischer in seinen lebenserhaltenden Verwünschungen und schmerzauflösenden Wahrheitsausbrüchen. Es gibt in Fosses Stück »Heiß« diesen Kai am Meer, die Finger zweier Männer zeigen immer wieder hinaus aufs Wasser, und doch existieren weder Raum noch Zeit. Spielt alles vor dem Tod oder danach? »Du hast lange gelebt«, sagt der eine zum anderen. Fosse sagt uns, dass es in der Kunst keinen Fortschritt gibt. Alles Neue endet nur wieder in alten unaufgelösten Geschichten. Tote Stimmen, die nach Leben rufen; Lebensschreie, denen der Tod ein unsicheres Stammeln auf die Zunge legt.

Eines seiner schönsten, traurigsten Stücke ist »Schlaf«. Ein junges Paar besichtigt eine leere Wohnung. Auch ein anderes Paar besichtigt, kurz darauf, diese Wohnung. Wenig später wird das eine junge Paar ein altes Paar werden, und das andere junge Paar wird, wie der Autor angibt, »mittelalt« sein. Der Wohnraum, die Zukunft also, die es einzurichten gilt, als gemeinsamer Ort der Generationen, an dem alle Zeiten in eine einzige Zeit fallen. Menschen sind hier wie Geister, die einen Raum nicht verlassen, auch wenn längst andere Körper eingezogen sind. Man schaut einander an, ohne doch einander wirklich sehen zu können. Alle Räume ein einziger Raum, in dem sekündlich die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod geschieht. Erinnerung ist der Krake, der erstickend an Herzen geht, als seien es Hälse.

Einst schufen Theaterdichter feurige Charaktere, die mit Dolch in der Magengrube und Limonade im Bauch unsterbliches Leben wider die Welt anmeldeten. Über Ibsen und Strindberg und Tschechow aber erschöpfte sich der flammend unverwechselbare Held. Längst schlingern nur noch Sprachröhren über die Bühnen, so wie gesichtsscheue Kapuzentypen durch die Realität huschen. Unsterblich einprägsam waren Ferdinand, Luise, Karl, Franz, Emilia, Fiesco. Protagonisten heutiger Stücke heißen anders, sind ganz Flüchtigkeit: der Mann, die Frau, Er und Sie, der Fremde, die Alte.

Dass die Moderne nahezu frenetisch Individualität und Selbst-Besinnung beschwört – es bildet einen seltsamen Gegensatz zum Persönlichkeitsverlust des theatralischen Personals: Jenes Ich, das dunnemals so wild und wehe in Aktion verglühte – es wurde ersetzt durch den Typus, der müde, hilflos, nervös reflektiert, weil er im Grunde nichts mehr lebt; jede Existenz kommentiert sich, ehe sie sich überhaupt erfahren könnte.

Das Werk Fosses ist Produkt dieser Lage. In seinem Werk gibt es nicht die Bombe, die explodiert, es ist nur ein Ticken in der Bombe Zeit. »Ja ... Doch doch ... So war das.« Was gesagt wird, gleicht einem Echolot, das in eisig tiefer Stille ermittelt – und als Angstschweiß auf die Stirn tritt. »Wo es Glück gibt, müssen auch welche verunglücken.«

Freilich: Jon Fosses Theater ist gleichnisfester »Gegenfrost« (Kierkegaard), es pocht tröstend auf die Unverfügbarkeit des Ichs noch in dessen bitterster Verlorenheit. Heute leistet schon Widerstand, wer den Mut hat, inmitten des allgewaltigen Marktes geradezu religiös aufrecht zur Seite zu treten und daseinsbejahend zu vereinsamen. Fosse: »Das Verstörende besteht darin, dass Kunst alles sein kann, was man ihr zuschreibt – und doch geht sie darin nicht auf.«

Es mag viele, jährlich sich ändernde Gründe für den Nobelpreis geben, der Grund für Fosse ist klar: Speziell sein Theater kennt den Untergang seiner Wahrheit nicht. Verändere! – aber wisse um die Grenzen, die der Existenz grundsätzlich eingeschrieben bleiben. Halt ein! – Aber wisse um die Horizonte, die alle Existenz, sie zu verändern, doch offenhalten. Menschenweisheit auf Fernfahrt unterm Nordhimmel und an den Schären-Küsten. In Nähe zum unwirtlichsten Ort: unser aller Seelen. »Es ändert sich und ist immer dasselbe.« Ja. Vielleicht. Könnte sein.

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