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Erinnerungskultur: Brandenburgs Gedenken im Wandel
Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten begeht in Potsdam ihr 30-jähriges Bestehen
Gerade einmal 21 Jahre alt ist Leonore Bellotti, als das Unglück über sie hereinbricht. In Schwerin schreibt die junge Geflüchtete 1946 verbotenerweise einen Brief ab, in dem ihr Vater die desaströsen Zustände in der gemeinsamen Heimat Königsberg beschreibt. Bellotti und ihre Mutter landen vor einem sowjetischen Militärtribunal – und schließlich im zum Speziallager umfunktionierten früheren KZ Sachsenhausen.
Rund 77 Jahre später erinnert sich die Zeitzeugin im Brandenburg-Saal der Potsdamer Staatskanzlei an die furchtbare Enge in den Baracken. Zum 30-jährigen Bestehen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten haben sich einstige Häftlinge, Vertreter der Botschaften Israels und Polens, Bundes-, Landes- und Kommunalpolitiker zusammengefunden, um gemeinsam zurückzublicken. Bellotti erzählt davon, wie sich die Frauen im Speziallager mit Handarbeiten die Zeit vertrieben: »Lappen haben wir immer bekommen. Mein Eindruck war, die Frauen wurden besser behandelt als die Männer.« In Sachsenhausen lernte die Zeitzeugin ihren späteren Mann kennen, der als Italiener in der »Ausländerbaracke« festgehalten wurde. Zur Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, einer »wunderbaren Einrichtung«, sollte Bellotti schließlich selbst Kontakt aufnehmen.
Ib Katznelson hingegen erzählt, wie er als Kind durch die Hölle der NS-Lager gehen musste. Zwei Jahre war er alt, als die Gestapo seine Familie 1943 in Kopenhagen verhaftete. Anschließend habe er mit seiner Mutter vor einem Gestapo-Vernehmer gesessen, erinnert sich Katznelson. Der Vernehmer habe etwas für die beiden tun wollen, doch daraus sei nichts geworden: Seine Mutter habe darauf bestanden, Jüdin und mit einem Juden verheiratet zu sein, so Katznelson. Es folgten die Stationen Ravensbrück und Theresienstadt.
Katznelson plädiert in Potsdam dafür, bei der heutigen Vermittlung zu beachten, dass Jugendliche viel Zeit vor Computerbildschirmen verbringen. Der Inhalt einer Vitrine, eine Schautafel oder eine Inschrift und selbst ein Besuch in einer Gedenkstätte berührten die heutige Generation keineswegs mehr so wie noch frühere. Generell werde die Arbeit der brandenburgischen Gedenkstättenstiftung immer wichtiger, heißt es auf der Veranstaltung. Zeitzeugen wie Katznelson gibt es immer weniger.
Für Sorgenfalten im Brandenburg-Saal sorgt auch das Erstarken rechter Kräfte. Andrea Genest, stellvertretende Direktorin der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, spricht von einem »elementaren Angriff auf unsere politische Kultur«, der sich derzeit beobachten lasse. Vom Land forderte Genest zugleich mehr Mittel, um die originale Bausubstanz der Gedenkstätten zu erhalten.
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Zur Stiftung gehören die KZ-Gedenkstätten in Sachsenhausen und Ravensbrück sowie die Hinrichtungsstätte in Brandenburg/Görden. Sie waren schon vor 1990 Orte des Gedenkens. Auch der Todesmarsch der Häftlinge 1945 wurde zu DDR-Zeiten mit Erinnerungstafeln nachgezeichnet.
Hinzugekommen sind nach 1990 die Erinnerungsstätte an den »Euthanasie«-Mord in Brandenburg/Havel, das Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Armee-Geheimdienstes in der Potsdamer Leistikowstraße und das KZ-Außenlager Lieberose, wo Tausende jüdische Häftlinge noch in den letzten Kriegstagen von der SS ermordet worden waren.
1990 sei es darum gegangen, das Erbe der damaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten anzunehmen und zu überprüfen, erklärt Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke in Potsdam. Dem »verordneten Antifaschismus der DDR« warf Woidke »Vernachlässigung bis hin zur Überbauung« vor und »Spuren getilgt« zu haben. Heute verfüge Brandenburg mit der Stiftung über pluralistische, offene zeithistorische Gedenkstätten, die Licht ins Dunkel bringen. Sie seien in der Gegenwart, in der der Rechtsextremismus sich auch in Brandenburg etabliert und »feste Strukturen ausgeprägt« habe, wichtiger denn je.
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