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  • Nach dem Angriff der Hamas auf Israel

Israel und Gaza: Humanität bewahren

Stimmen linker jüdischer und palästinensischer Aktivisten durchbrechen die militaristische Logik und machen Hoffnung

  • Gil Shohat
  • Lesedauer: 6 Min.
Trauer nach dem blutigen Massaker: Menschen bei einer Beerdigung von israelischen Soldaten, die bei dem Terrorangriff schwer bewaffneter Hamas-Kämpfer aus dem Gazastreifen getötet wurden
Trauer nach dem blutigen Massaker: Menschen bei einer Beerdigung von israelischen Soldaten, die bei dem Terrorangriff schwer bewaffneter Hamas-Kämpfer aus dem Gazastreifen getötet wurden

Mit »Zäsur« ist die Bedeutung des 7. Oktober 2023 für die israelische Geschichte und Gesellschaft noch euphemistisch beschrieben. Am Ende der hohen jüdischen Feiertage (Rosh HaShana, Jom Kippur, Sukkot) und der sie begleitenden Ferienzeit wurden insbesondere die Bewohner*innen der Ortschaften um den Gazastreifen in grausamer Art und Weise mit der Fragilität der Sicherheitssituation in der Region konfrontiert. Über 1200 Todesopfer, Tausende Verletzte und circa 150 in den Gazastreifen entführte Geiseln (darunter Familien mit Kindern, Holocaust-Überlebende, Arbeitsmigranten) sind das Ergebnis eines brutalen Angriffs der radikalislamischen Hamas auf die Zivilbevölkerung in den Kibbuzim und Kleinstädten im Süden Israels sowie auf Soldaten, die in ihren Militärbaracken von den Kämpfern überrascht wurden.

Der Schmerz, die Verwirrung, die Orientierungslosigkeit, die dem folgten, sind noch mitten in ihrer Entfaltung, auch während ich diesen Beitrag hier schreibe – und obwohl oder gerade weil ich zwei Tage nach Beginn der Ereignisse das Land mit meiner Familie verlassen habe, dabei jedoch Verwandte, Freund*innen und Kolleg*innen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung zurücklassen musste und nun die Geschehnisse von Deutschland aus verfolge.

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Das Außergewöhnliche, das Beängstigende für die Menschen in Israel an diesem langen Schabbat und den darauffolgenden Tagen war – neben den offensichtlichen Gräueltaten der Hamas-Kämpfer – der klaffende Widerspruch zwischen den offiziellen Informationen der israelischen Regierung und der israelischen Armee im kontinuierlich laufenden Radio- und Fernsehprogramm sowie den nahezu in Echtzeit veröffentlichten Videos von den sich überschlagenden Ereignissen in den sozialen Netzwerken. Sie führten der Bevölkerung Israels auf schmerzhafte Weise die eigene Verwundbarkeit vor Augen, just in einer Zeit, in der sich viele von ihnen gerade erst mit dem Versagen ihrer Regierung und Streitkräfte anlässlich des Jom-Kippur-Krieges vor 50 Jahren beschäftigten.

Damals wurde die israelische Armee vom Vorrücken syrischer und ägyptischer Truppen überrascht. Und auch heute hätte kaum jemand gedacht, dass ein solcher Totalausfall der Streitkräfte und der für sie verantwortlichen ultrarechten Regierung, vor allem auf israelischem Territorium und über Tage, möglich sein könnte. Und so mischt sich in die nun dominanten Rufe nach Rache an der Hamas, ihrer völligen Auslöschung und der Zerstörung von Teilen des Gazastreifens, die immer lauter gestellte Frage, wie es zu dieser »Aufgabe« der Ortschaften in der Nähe von Gaza kommen konnte.

Wie konnte es sein, dass Bewohner*innen der Kibbuzim teilweise durch ihre herbeigeeilten bewaffneten Väter mit Militärkarriere befreit wurden, nachdem sie stundenlang alleine mit ihren Kindern in ihren Häusern verharrt hatten? Wie konnte es sein, dass der offensichtlich von langer Hand geplante Angriff der Hamas nicht von den israelischen Sicherheitsbehörden erahnt wurde? Und wie konnte es sein, dass tagelang Kämpfer der Hamas den Grenzzaun Richtung Israel passierten und sich immer neue Kämpfe mit Polizist*innen und Soldat*innen etwa in der grenznahen Stadt Sderot lieferten? All dies, während immer mehr Einheiten der israelischen Armee in das besetzte Westjordanland verlegt wurden, unter anderem um messianische Siedlergruppen zu schützen, die in den vergangenen Monaten unter Schirmherrschaft der rechtsradikalen Minister Itamar Ben Gwir und Bezalel Smotrich immer wieder palästinensische Dörfer überfielen (und es auch in diesen Tagen außerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit erneut tun).

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Israel: Kein Plan für Gaza Wie Hamas im Gazastreifen die Kontrolle übernahm

Es ist fraglich, ob in den nächsten Jahren Menschen wieder in diese teils verwüsteten Ortschaften an der Grenze zum Gazastreifen ziehen werden. Und es wird lange dauern, bis die Fragen nach der Verantwortung für dieses kolossale Versagen des Staates geklärt werden können.

Die israelische Regierung samt ihrer ultrarechten Kabinettsmitglieder hat lange gebraucht, bis sie in der Öffentlichkeit vernehmbar war. Von einer Verantwortungsübernahme ganz zu schweigen (im Gegensatz zum Oberbefehlshaber der Armee, Herzl Halewi, der das Versagen der Streitkräfte mittlerweile eingeräumt hat). Vielmehr war der Finanzminister und messianische Siedler Bezalel Smotrich unter den Ersten, die es ablehnten, das Schicksal der über 150 Geiseln in den Händen der Hamas als Variable in die momentan geführten Angriffe auf den Gazastreifen einzubeziehen, die ihrerseits immenses Leid mit sich bringen und in der Zerstörung ganzer Stadtviertel samt Blockade von Strom, Lebensmittel- und Wasserversorgung münden. Er betonte in einer Kabinettssitzung, oberste Priorität müsse haben, »die Hamas brutal zu treffen und die Angelegenheit der Gefangenen nicht wesentlich zu berücksichtigen«.

Es ist fraglich, ob nun die am Mittwoch ins Leben gerufene Notstandsregierung samt dreiköpfigem »Kriegskabinett« (Premierminister Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Joaw Galant, Oppositionspolitiker Benny Gantz) der drängenden Frage der israelischen Kriegsgefangenen einen zentralen Stellenwert einräumen wird. In der ersten Pressekonferenz betonte Gantz etwa, dass »diese Sache namens Hamas ausgelöscht« werden müsse, und appellierte dafür trotz seiner auch in diesem Rahmen weiterhin sichtbaren Antipathie gegenüber Netanjahu an die Einigkeit der Bevölkerung in diesen »existenziellen« Zeiten.

Weitverbreitet ist in der israelischen Gesellschaft die Ansicht, man müsse jetzt zunächst zusammenstehen und diesen Krieg gewinnen, erst danach könne man untersuchen, was zu dieser Situation geführt hat – samt Forderung nach notwendigen Rücktritten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Untersuchungen nicht auf der strukturellen, sondern auf der Sicherheitsebene angesiedelt sein werden: Wie hätte man mit noch mehr Maßnahmen zur Festigung der Trennung und Grenzsicherung beitragen können, zulasten der ohnehin größtenteils rechtelosen palästinensischen Bevölkerung?

Auch bei der israelischen Linken ist die Fassungslosigkeit und die damit zusammenhängende Angst vor dem, was noch kommen mag, zu greifen und wird auch so schnell nicht verfliegen. Denn egal wie kritisch und vehement auch Linke in Israel, jüdisch und palästinensisch, vor den möglichen Folgen von Besatzung und Unterdrückung gewarnt haben, dieses Ausmaß an Brutalität, Zerstörung und Tötung von Zivilist*innen hatte wohl niemand erwartet.

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass unter den zahlreichen Opfern und Verschleppten auch einige linke Anti-Besatzungs-Aktivist*innen sind, etwa das ehemalige Vorstandsmitglied der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem, Vivian Silver. Groß ist nun die Furcht vor Racheakten rechter israelischer Gruppierungen an Linken und Palästinenser*innen innerhalb Israels. Es ist ermutigend zu sehen, dass sich Menschen zusammentun, um gewaltsame Zusammenstöße wie im Mai 2021 zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis zu verhindern.

In der gegenwärtigen militaristischen Logik sind es gerade die Stimmen aus dem Kreis dieser jüdischen und palästinensischen Aktivist*innen und Politiker*innen, die Hoffnung machen. Stimmen, wie etwa die der Palästinenserin Sally Abed von der jüdisch-palästinensischen Graswurzelorganisation Standing Together: Sie ist in der Lage, den unfassbaren Schmerz ihrer jüdisch-israelischen Genoss*innen zu teilen, und hat bei dem Hamas-Angriff selbst Bekannte verloren, Alliierte im Kampf für gleiche Rechte für alle in der Region. Dennoch weist sie gleichzeitig auf das unhaltbare Schicksal der Menschen in Gaza und auf den Besatzungskontext hin, in dem dies alles geschieht. Oder wie die jüdisch-israelische Anti-Besatzungs-Aktivistin Sahar Vardi, deren einzige Hoffnung in der radikalen, ungeteilten Humanität im Strudel der gegenseitigen Dehumanisierung besteht.

Es sind diese Stimmen, die die Solidarität der Linken verdienen. Es ist bezeichnend für den deutschsprachigen, auch linken Diskurs, dass diesen ambivalenztoleranten Stimmen aus Israel selbst in diesen, für alle Menschen dort schicksalhaften, beängstigenden letzten Tagen zu wenig Raum gegeben wird.

Gil Shohat ist Historiker und leitet seit März 2023 das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel. Er ist als Sohn israelischer Eltern in Bonn geboren und aufgewachsen.

Israel fordert Teilevakuierung des Gazastreifens

Vor der erwarteten Bodenoffensive im Gazastreifen als Reaktion auf Hamas-Gräuel hat das israelische Militär mehr als eine Million Palästinenser zur Evakuierung aufgefordert. »Das Militär ruft alle Zivilisten von Gaza-Stadt auf, ihre Häuser zu ihrer eigenen Sicherheit und zu ihrem Schutz Richtung Süden zu verlassen«, sagte Armee-Sprecher Jonathan Conricus am Freitag. Die Menschen sollten sich in ein Gebiet südlich des Wadis Gaza begeben, etwa in der Mitte des nur 40 Kilometer langen Gebiets. Augenzeugen berichteten von Panik unter der Bevölkerung. Im Fernsehen war zu sehen, wie Menschen in Autos, auf Lastwagen, mit Eselskarren und zu Fuß auf der einzigen Hauptstraße des Gazastreifens Richtung Süden unterwegs waren. Das UN-Hilfswerk für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) warnte, der Küstenstreifen werde wegen der Luftangriffe und der Abriegelung zu einem »Höllenloch und steht am Rande des Zusammenbruchs«.
Die islamistische Hamas im Gazastreifen hat den Aufruf der israelischen Armee zur Evakuierung des nördlichen Küstengebiets als »Propaganda« bezeichnet. Zivilisten sollten nicht auf die »Propagandanachrichten reinfallen«, teilte die im Gazastreifen herrschende Palästinenserorganisation am Freitag mit. Aus Sicherheitskreisen hieß es, dass Bewohner am Verlassen des Nordens gehindert werden sollten. Augenzeugen im Gazastreifen berichteten, mehrere Bewohner seien bereits von der Hamas gestoppt und zur Rückkehr in den Norden aufgefordert worden.
Ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wies in Genf darauf hin, dass die Verlegung von schwer kranken und schwer verletzten Patienten unmöglich sei. »Solche Menschen zu transportieren, kommt einem Todesurteil gleich«, sagte Sprecher Tarik Jasarevic.
Die Vereinten Nationen forderten Israel auf, die Anweisung zur Evakuierung zu widerrufen. Es drohe eine »katastrophale Situation«, sagte ein UN-Sprecher. Es war völlig unklar, wo die vielen Menschen im Süden des Gazastreifens bleiben und versorgt werden sollten. Israel ist nach US-Angaben offen für die Einrichtung »sicherer Zonen« für die palästinensische Zivilbevölkerung. Die USA und Israel hätten über die Notwendigkeit gesprochen, im Gazastreifen »einige sichere Gebiete« einzurichten, sagte am Freitag ein US-Regierungsvertreter. In diesen Sicherheitszonen könnten Zivilisten Schutz vor »legitimen israelischen Sicherheitsoperationen« finden. Die USA bemühen sich indes weiter um die Öffnung von Grenzübergängen aus Gaza für die fliehende Zivilbevölkerung. Den Übergang bei Rafah haben die ägyptischen Behörden geschlossen.

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