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Berlin: »Die Stadt verliert ihr baukulturelles Gedächtnis«
Die Präsidentin der Berliner Architektenkammer, Theresa Keilhacker, befürchtet schwere Umweltfolgen durch die Neubaupolitik der Großen Koalition
Die Architektenkammer Berlin steht wie kaum eine andere Länderkammer für die Forderung nach einer ressourcenschonenden Umbaupolitik. Überliefert ist Ihr Satz »Wer abreißt, ist von gestern«. Wenn man aber durch die Stadt geht, sieht man überall Abrissbagger und Neubaustellen. Warum läuft es weiter in die falsche Richtung?
Den Eindruck kann man haben, dass weiter sehr radikal abgerissen und neu gebaut wird. Das hat viel mit dem Spekulationsdruck der vergangenen Jahre zu tun. Die niedrige Zinspolitik hat einen Run auf Immobilien befördert, Betongold war der sichere Hafen. Damit man ordentlich Gewinn machte, wurde oft nicht auf die örtlichen Gegebenheiten geachtet. Das hat der Stadt an vielen Stellen geschadet, sie verliert ihr baukulturelles Gedächtnis und die Identifikationspunkte von Quartieren. Deswegen gibt es auch so viele Bürgerinitiativen. Die Menschen spüren, hier geht etwas verloren, was wir so schnell nicht wiederbekommen. Fakt ist: Der Wohnungsmarkt ist sehr angespannt, durch die vielen Krisen in der Welt wird der Zuzug weiter steigen. Wohnraum muss also geschaffen werden – die Frage ist nur, wie. Abriss und Neubau sind stärker CO2-emittierend und ressourcenfressend und haben gravierendere soziale Folgen als Weiternutzung und Ertüchtigung. Deswegen setzt die Architektenkammer seit Beginn meiner Amtszeit auf Bestandsertüchtigung vor Neubau. Das war auch für uns keine Selbstverständlichkeit, denn Bauen auf der »grünen Wiese« ist einfacher als zu ertüchtigen. Inzwischen ist das aber Leitlinie in allen Gremien und Ausschüssen und wir haben die Bildungsarbeit daran ausgerichtet. 2022 hat die Kammer das Abrissmoratorium unterschrieben. Wir sind sehr weit gegangen, weil wir meinen, es ist fünf vor zwölf. Letztlich ist ein demokratisch legitimierter Paradigmenwechsel gelungen, der in der Mitte unserer Mitglieder angekommen ist.
Die freischaffende Architektin Theresa Keilhacker ist Mitglied in der Kommission für nachhaltiges Bauen beim Umweltbundesamt und seit Mai 2021 Präsidentin der Berliner Architektenkammer. Angesichts der Abriss- und Neubaupolitik des Senats befürchtet die berufliche Selbstverwaltung von über 10 000 Architektinnen und Architekten katastrophale Folgen für Mensch und Umwelt. Die Architektenkammer fordert unmittelbares Umsteuern und eine klare Prioritätensetzung auf Bestandsertüchtigung vor Neubau.
Aber offensichtlich nicht in der Politik. Welche Instrumente gäbe es, Investoren dazu zu bringen, mehr für den Bestandserhalt zu leisten?
Unsere Forderungen an den Senat umfassen ein ganzes Maßnahmenpaket. Ganz zentral: die Novellierung der Bauordnung. Wir fordern, dass bei Abriss eine Genehmigungspflicht vorgeschrieben ist, statt wie bisher nur eine Anzeigepflicht. Damit bekämen die Bezirke auch eine Rechtsgrundlage, um ihre Interessen gegen einen Investor besser durchzusetzen. Sanierung sollte erleichtert und die Standards für den Neubau sollten erhöht werden. Auch die Umnutzung von leerstehenden Bürogebäuden zu Wohnraum muss vereinfacht werden. Dann kann man gezielt Förderinstrumente einsetzen. Man kann Fördermittel in die Sanierung lenken statt in den Neubau. Man kann barrierefreie Dachaufstockung fördern und damit den Einbau von Fahrstühlen. Die Förderung muss aber selbstverständlich so hoch sein, dass es keine Luxussanierung wird, das heißt, es wird nicht billig. Die Unterstützung von Wohnungstausch und Wohnungsteilung bei großen Wohnungen durch Beratung, Vermittlungsagenturen und Übernahme der Umbaukosten wäre ein anderer Schritt.
Mein Eindruck ist nicht, dass die Senatspolitik Ihre Empfehlungen sehr ambitioniert aufgreift.
Ja, den Eindruck haben wir auch gewonnen. Im aktuellen Entwurf der Bauordnung wurde die Genehmigungspflicht nicht eingeführt. Man hat alles herausgenommen, was Klimaschutz betrifft, und hofft, dass der Neubau dadurch angekurbelt wird.
Mit »Bauen, bauen, bauen« aber scheitert man doch seit Jahren ...
Ja, deswegen sind wir auch skeptisch. Doch wir kommen um die Klimafrage nicht herum. Wir müssen die Flächenversiegelung stoppen und die CO2-Produktion reduzieren. Der Schwerpunkt muss auf Ressourcenschonung und Bestandsertüchtigung gelegt werden.
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Erkennen Sie diese Schwerpunktsetzung in der aktuellen Senatspolitik?
Nein.
Sie schreiben auf Ihrer Webseite, nötig sei ein »ausgewogener Dreiklang von Ökologie, Ökonomie und sozialen Belangen«. Letzteres fällt in der Praxis häufig weg und die Mieter*innen sind die Leidtragenden. Wundert Sie da, dass bei vielen die Alarmglocken klingeln, wenn sie den Begriff »energetische Sanierung« hören?
Wenn ein Eigentümer alle Spielräume nutzt, um eine hohe Gewinnmarge zu erzielen, heißt energetische Sanierung in der Tat häufig Luxussanierung. Da ist in der Vergangenheit viel Vertrauen verspielt worden. Aber es gibt nicht nur die Spekulanten. Wenn man das gut und fachlich sauber macht, ist es möglich, ein Haus energetisch zu ertüchtigen und die Warmmiete konstant zu halten. Die Genossenschaften sind hier Leuchttürme, sie sanieren bei gleichbleibender oder nur gering steigender Miete und arbeiten trotzdem wirtschaftlich. Es fehlt auch nicht mehr an guten Architektinnen und Architekten, die das Wissen und das nötige Fingerspitzengefühl haben, die wissen, dass die frühzeitige Einbeziehung der Mieter*innen Vertrauen schafft und Konflikte vermindert. Die Wohnenden wollen verständlicherweise Lebensqualität, auch wenn beim laufenden Betrieb saniert wird. Es geht darum, dass die Menschen dort bleiben können, wo sie gerne leben, und nicht verdrängt werden. Eine andere Baupolitik ist möglich, aber es geht nur mit den Bürgerinnen und Bürgern. Ich finde, die Berlinerinnen und Berliner sind relativ gut aufgeklärt und verlangen nichts Unmögliches. Sie sind durchaus kompromissbereit, wenn sie das Gefühl haben, sie werden ernst genommen.
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